Der Idiot
vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.« Und der Fürst erzählte alles eingehend.
»Nun, sehen Sie, das ist, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedjew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein, und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe ...!«
»Hören Sie, Lebedjew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedjew, ich beschwöre Sie ...! Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein; aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«
»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedjew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut ... Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch; aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken, wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen, wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das wird ein Triumph der Tugend sein! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten ... mit leisen Schritten und ... gemeinsam.«
X
Endlich hatte der Fürst verstanden, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte, und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte dazu entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einem schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, in deren langen Wimpern Tränen funkelten, und rief ihn wieder zu sich, und als er erwachte, erinnerte er sich wieder wie bei jenem früheren Traum an ihr Gesicht. Er wollte schon sofort zu ihr gehen; aber er vermochte es nicht; endlich, fast in Verzweiflung, entfaltete er die Briefe und begann sie zu lesen. Diese Briefe hatten ebenfalls Ähnlichkeit mit einem Traum. Manchmal träumen wir seltsame Dinge, unmögliche, unnatürliche Dinge; wenn wir aufgewacht sind, erinnern wir uns deutlich an das Geträumte und wundern uns über diese merkwürdige Tatsache. Wir erinnern uns vor allem daran, daß der Verstand während der ganzen Dauer des Traums seine Tätigkeit nicht eingestellt hat; wir erinnern uns sogar, daß wir außerordentlich listig und klug in der langen, langen Zeit verfahren sind, als uns die Mörder umringten, als sie uns zu überlisten suchten, ihre Absicht verbargen, sich gegen uns freundschaftlich benahmen, während sie doch schon die Waffe bereit hielten und nur auf ein Zeichen warteten; wir erinnern uns, wie listig wir sie endlich täuschten und uns vor ihnen versteckten; wie wir aber dann merkten, daß sie diese ganze Täuschung durchschauten und sich nur stellten, als ob sie nicht wüßten, wo wir uns versteckt hätten; wie wir sie aber von neuem listig betrogen; an all das erinnern wir uns deutlich. Aber warum konnte denn unser Verstand sich gleichzeitig mit all den augenscheinlichen Absurditäten und Unmöglichkeiten abfinden, mit denen neben andern Dingen der Traum angefüllt war? Einer der Mörder verwandelte sich vor unseren Augen in eine Frau und aus der Frau in einen kleinen, listigen, häßlichen Zwerg, und wir nahmen all dies ohne weiteres als vollendete Tatsache hin, fast ohne die geringste Verwunderung, und zwar gerade zu der Zeit, wo auf der andern Seite unser Verstand auf das angestrengteste arbeitete und eine außerordentliche Stärke, Schlauheit, Fassungskraft und Logik bewies. Und ferner, warum fühlen wir, wenn
Weitere Kostenlose Bücher