Der Idiot
sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit mir; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand; das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem öden Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tag fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein auf ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorf bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorf bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und versorgten sie. Es schien, daß man im Dorf mit Marie Mitleid zu fühlen begann; wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihr die Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder machten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tag vor ihrem Tod kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr; sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Mal die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte mir, daß Marie gestorben sei. Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einemmal herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, so halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarg her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden: sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt. Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen; auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt. Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt
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