Der Idiot
jedem Menschen, ist es auch mir in meinem Leben passiert, nicht sehr löbliche Handlungen zu begehen«, begann der General; »wunderlicherweise aber halte ich selbst das kurze Geschichtchen, das ich Ihnen jetzt erzählen werde, für die häßlichste Handlung meines ganzen Lebens. Dabei sind seitdem fast fünfunddreißig Jahre vergangen; aber ich habe mich, sooft ich daran denke, nie von einer gewissen, sozusagen kratzenden Empfindung am Herzen frei machen können. Die Sache war übrigens im höchsten Grade dumm: ich war damals eben erst Fähnrich geworden und hatte einen schweren Dienst. Na, nun weiß man ja: so ein Fähnrich hat heißes Blut und wenig Moneten. Ich hatte damals einen Burschen, Nikifor hieß er, der für meine Wirtschaft sehr eifrig sorgte; er hielt die Groschen zusammen, nähte, striegelte und putzte und stahl sogar von überallher zusammen, was er kriegen konnte, um meinen Haushalt über Wasser zu halten; er war der treueste, redlichste Mensch, den man sich nur denken kann. Ich war gegen ihn natürlich streng, aber gerecht. Es traf sich, daß wir eine Zeitlang in einem kleinen Städtchen in Garnison lagen und ich mein Quartier in einer Vorstadt bei der Witwe eines verabschiedeten Leutnants hatte, einer alten Frau von achtzig Jahren, oder wenigstens war sie nahe daran. Sie hatte ein elendes, baufälliges Holzhäuschen und konnte sich bei ihrer Armut nicht einmal eine Bedienung halten. Besonders merkwürdig war an ihr, daß sie früher einmal eine große Familie und zahlreiche Verwandte gehabt hatte; aber die einen waren im Laufe ihres langen Lebens gestorben, andere weggezogen, wieder andere hatten die alte Frau vergessen, und ihren Mann hatte sie vor etwa fünfundvierzig Jahren begraben. Einige Jahre vorher, ehe ich dort in Quartier lag, hatte noch eine Nichte bei ihr gewohnt, eine bucklige Person, wie ich hörte, und böse wie eine Hexe, so daß sie sogar einmal die alte Frau in einen Finger gebissen hatte; aber auch die war gestorben, und nun stand die Alte schon drei Jahre lang mutterseelenallein in der Welt. Ich langweilte mich bei ihr schrecklich; denn sie war so einfältig, daß nie ein Wort aus ihr herauszubekommen war. Schließlich stahl sie mir einen Hahn. Die Sache ist noch bis auf den heutigen Tag dunkel; aber es konnte niemand als sie gewesen sein. Um des Hahnes willen verzankten wir uns, und zwar gründlich, und da kam es mir sehr erwünscht, daß man mich gleich auf mein erstes Gesuch hin in ein anderes Quartier verlegte, in der entgegengesetzten Vorstadt, bei einem Kaufmann, der eine zahlreiche Familie und einen gewaltigen Bart hatte, wie ich mich noch heutigentags erinnere. Ich und Nikifor zogen mit Freuden um; die Alte blieb in mißvergnügter Stimmung zurück. Es vergingen etwa drei Tage, da komme ich einmal vom Exerzieren zurück, und Nikifor sagt zu mir: ›Wir hätten unsere Terrine nicht bei der früheren Wirtin zurücklassen sollen, Euer Wohlgeboren; ich weiß jetzt nicht, worin ich die Suppe auftragen soll.‹ Ich war natürlich höchst verwundert: ›Wie geht das zu? Wie ist das gekommen, daß unsere Terrine bei der Wirtin geblieben ist?‹ Erstaunt berichtete mir Nikifor weiter, die Wirtin habe ihm bei unserem Auszug unsere Terrine nicht herausgegeben, mit der Begründung, da ich ihr ihren eigenen Topf zerbrochen hätte, so wolle sie nun für ihren Topf unsere Terrine behalten, und ich hätte ihr das selbst vorgeschlagen. Über eine solche Gemeinheit von ihrer Seite geriet ich natürlich außer mir; das Fähnrichsblut kam in Wallung; ich sprang auf und lief zu ihr hin. Als ich zu der Alten kam, kochte ich sozusagen vor Wut; ich sehe mich um, und da sitzt sie ganz allein auf dem Flur in einer Ecke, als ob sie sich vor der Sonne versteckt hätte, die eine Wange auf die Hand gestützt. Nun, wissen Sie, da ließ ich denn gleich einen ganzen Hagel von Scheltworten auf sie niederprasseln: ›Du bist ja‹, sagte ich, ›eine ...‹ und so weiter und so weiter; wissen Sie, so in echt russischer Art. Wie ich sie aber so anblicke, kommt es mir sonderbar vor: sie sitzt da, das Gesicht mir zugewendet, die Augen weit geöffnet, und antwortet kein Wort und sieht so sonderbar, ganz sonderbar aus und nickt, wie es scheint, mit dem Kopf. Ich schwieg schließlich still, sah sie an, fragte sie, bekam aber keine Antwort. Ich stand noch ein Weilchen unschlüssig da; die Fliegen summten, die Sonne war im Untergehen, es herrschte tiefe Stille; ganz verwirrt ging ich endlich fort. Ich war noch
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