Ashes - Pechschwarzer Mond (German Edition)
1
Sein Verstand setzte fast aus. Chris stand nur da wie erstarrt. Versteinert.
Lena war völlig abgemagert, unter der Haut traten spitz die Knochen hervor. Ihre matten Augen lagen tief in den schmutzig braunen Höhlen. Abgesehen von dem Schal waren ihre Kleider zerrissen, dreckig. In ihrem verfilzten Haar hingen totes Laub und abgebrochene Zweige.
»Lena«, krächzte er mit erstickter Stimme. Seine Brust war plötzlich zu eng für sein wild hämmerndes Herz, seine Lunge zwischen Eisenwänden gefangen. » W-w o … w-w ie … «
Sie sagte nichts, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er: Sie ist nicht echt. Das ist ein fauler Trick. Du fühlst dich schuldig, das ist …
Dann blieben seine Augen – anscheinend die einzigen noch funktionierenden Körperteile – an dem lindgrünen Schal hängen. O Gott. Das Entsetzen packte ihn. Das letzte Mal hab ich den gesehen, als wir in dieser Schule übernachtet haben und die Veränderten kamen. Chris hatte Lenas Schal gestohlen und ihn ganz bewusst auf einen Leichenhaufen gelegt. Weil ich nicht sicher war, was mit ihr los ist. Er wusste noch, wie sich sein Magen verkrampft hatte, als dieser Junge, ein Veränderter, sich Lenas Schal um den Hals wickelte. Und jetzt hatte Lena ihren Schal wieder, und das hieß …
» M-M -Moment mal.« Er wollte einen Schritt zurück machen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. » L-L ena … «
Lautlos griff sie an, wie durch Nebel sah er Klauen und Zäh…
»Nein!« Um sich schlagend fuhr er auf, stürzte aus dem Bett – und landete mit einem Plumps auf dem Boden. Die Fensterscheiben erzitterten. Keuchend drehte er sich auf den Rücken. Seine Brust war schweißnass, das Haar klebte ihm am Schädel.
»Entspann dich, es war ein Traum«, sagte er zur Zimmerdecke. Mit dem Arm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Nur ein Traum.«
Mein Gott, aber so real wie die Albträume. Sein Blick glitt zur Uhr auf dem Nachttisch. Es waren nur fünf Minuten verstrichen. Abgesehen vom Ticken der Uhr herrschte Totenstille im Haus.
Eingedöst. Er setzte sich auf. »Warum träume ich dauernd von dir, Lena?«, flüsterte er. Wenn er nicht aufpasste, würde ihm das noch den Rest geben. Stöhnend kniete er sich hin, kam dann auf die Beine und wankte zum Südfenster. Der gefrorene Teich war ein goldenes Oval. Der lange blauschwarze Schatten des Hauses zog sich bis zum hintersten Gebäude. Der Pferch war leer, die Kühe wahrscheinlich zum Melken im Stall.
»Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, Chris. Versuch dein Glück, so wie bei Alex. Versteck dich nicht mehr«, sagte er zur Wand. Er drückte die Handflächen gegen das kalte Glas. »In Gottes Namen, du bist kein Achtjähriger mehr. Erzähl Hannah oder Isaac von Lena und Alex, erzähl es irgendjemandem. Mach’s einfach. Wenn sie es verstehen, gut. Wenn nicht … « Na, sie würden ihn schon nicht gleich umbringen, oder? Verunsichert runzelte er die Stirn. Nein, das wäre doch Wahnsinn. Würde er es an ihrer Stelle tun?
»Nein«, entschied er. Er würde so einem Kerl ein paar Lebensmittel mitgeben, ihm die Augen verbinden, ihn weit weg führen, ihm die richtige Richtung weisen und ihm alles Gute wünschen. Wenn Hannah und Jayden klug waren, würden sie wegziehen und ihm, Chris, keine Chance geben, ihnen jemals auf die Spur zu kommen. Natürlich wäre es hart, alles zurückzulassen, was sie aufgebaut hatten, aber sie waren stark. Sie würden es schaffen.
Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit sollte er verschwinden. Hier konnte er nichts mehr ausrichten, nichts mehr herausfinden. Keine Armee williger Kinder rekrutieren. Wenn Jess’ Plan so aussah, dann war sie verrückt. Das waren doch nur Kinder, die versuchten zu überleben. Er konnte sie nicht zwingen zurückzukehren, er wollte sie nicht mal darum bitten.
Und was den Rest betraf, all diese Geheimnisse – okay, jetzt wusste er Bescheid. Juhu. Na und? Die einzige offene Frage war, ob die Leute in Rule ahnten, was Peter und der Rat im Schilde führten, und einfach nur den Mund hielten. War ihm das wirklich wichtig genug, wollte er tatsächlich zurückgehen und die Zone auflösen, es mit dem Rat aufnehmen?
»Vielleicht.« Aber nicht für sie. Die Kinder, die Peter und ich zurückgebracht haben, sind nie danach gefragt worden, was sie wollen. Du darfst sie nicht in diesem dunklen Schatten aufwachsen lassen. Was für Menschen sollen aus ihnen werden? Gerade er sollte wissen, wie es war, wenn man mit Gespenstern und Blut
Weitere Kostenlose Bücher