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Der junge Häuptling

Der junge Häuptling

Titel: Der junge Häuptling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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dem Rauschen des Flusses und schlief ein. Der erste Tag seiner Gefangenschaft war vergangen.
    Es folgte ihm Tag um Tag, gleichmäßig und eintönig. Das sonnenlose Licht fiel in den Keller, die Pumpe quietschte, die Soldatenstiefel knarrten, die Schüsseln klapperten zur Stunde der Mahlzeiten. Die Menschen schwatzten, fluchten, riefen, befahlen und sangen. Mindestens vierzig von ihnen lernte der Indianer an Schritt und Stimme auseinanderzuhalten. Die Stimmen von Thomas und Theo waren am leichtesten herauszuerkennen, und der Dakota verstand die Worte, mit denen sie für Major Smith Partei nahmen. Wenn es Mittag wurde, kam der vierschrötige Wächter mit dem verdrießlichen Gesicht und brachte das Pökelfleisch.
    Der Gefangene maß aus, wieviel Schritte ihm seine Kette im Halbkreis erlaubte; es ergaben sich in dem zur Luke hin abgeschrittenen Halbkreis zehn, rückwärts nur sieben, da sich die festsitzende Kette beim Umdrehen verkürzte. Der Gefangene lief hin und her; er setzte sich, rollte sich zusammen, streckte sich und stand wieder auf. Es waren die einzigen Bewegungen, zu denen ihm Handschellen und Ketten noch Freiheit ließen. Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen der erste Monat. Die Jahreszeit war weitergegangen, und die Wärme des Sommers drang in den Keller ein. Immer leiser klang das Rauschen des sinkenden Flusses, und endlich verstummte es ganz.
    Der vierschrötige Wächter, der nie mehr ein Wort mit dem Gefangenen gesprochen, ihn aber auch ohne jegliche Mißhandlungen täglich versorgt hatte, begann auf einmal zu schikanieren. Er brachte das Essen nicht mehr zu regelmäßiger Zeit, an manchen Tagen gar nicht, und er vergaß öfters den Wassertrunk. Noch weniger als sonst dachte er an die Reinigung des Kellers. Er knurrte und murrte, ließ die zahlreichen Flüche laut werden, die einem Rauhreiter zum Ausdruck schlechter Laune zur Verfügung standen, und gebrauchte alle Schimpfwörter, mit denen Weiße die Indianer gern belegten.
    Er stieß den Gefangenen, trat ihn mit Füßen und schlug ihn. Tokei-ihto verhielt sich all dem gegenüber wie ein Toter. Er wollte dem Weißen nicht das Schauspiel geben, daß er sich vergeblich wehre. Die Mißhandlungen weckten eine Hoffnung in ihm. Vielleicht hatten die Langmesser im Krieg eine Niederlage erlitten, und der Wächter ließ seinen Ärger darüber dort aus, wo kein Widerstand zu befürchten war. Der Dakota versuchte, eine Aussage darüber aus dem Vierschrötigen hervorzulocken.
    »Ich weiß«, sagte er eines Abends, »warum du mich schlagen willst. Weil eure Generäle von den Kriegern der Dakota im Kampf geschlagen worden sind.«
    »Du dreckiger Köter … wer hat dir das gesagt?!« Der Vierschrötige stand mit drohend erhobenem Kochgeschirr vor dem Gefangenen. Tokei-ihto lächelte.
    »Schlag doch zu!« sagte er. »Mit deinem Kochtopf! Die Weißen verstehen sehr wenig von einer Marter.«
    »Willst du noch frech sein? Dir ist nicht wohl, wenn du nicht mit glühenden Eisen gezwickt wirst, wie das bei euch die Mode ist gegen einen Gefangenen? Du Hund, du roter Hund, wenn ich daran denke, daß deine Kumpane unseren General Custer und alle seine Leute umgebracht haben, da möchte ich dir schon auf der Stelle den Hals umdrehen! Aber freue dich nur nicht zu früh, du wirst nicht viel Gewinn davon haben! Bevor dich einer befreien kann, hängen wir dich auf! Das sage ich dir, damit du weißt, was dir blüht! Wir haben nicht vergessen, wie viele von uns du hinterrücks erstochen und erschossen hast! Entlaufener Kundschafter und hinterlistiger Verräter!«
    Der Vierschrötige schlug mit dem Kochtopf zu, aber er hätte ebensogut auf einen Baumstamm schlagen können. Tokei-ihto rührte sich nicht und lächelte weiter ironisch.
    »Du hast nicht viel Kräfte«, sagte er. Es war bei den Indianern Sitte, daß der Gefangene den Sieger reizte, um ihm seine Furchtlosigkeit zu beweisen.
    »Ich keine Kraft? Jetzt bleibt mir die Luft weg! Was bildest du dir denn eigentlich ein? Ich werde dir das Vergnügen aber noch versalzen! Darauf kannst du Gift nehmen. Gute Nacht fürs erste, und mach dich morgen auf was gefaßt!«
    Der Vierschrötige zog ab. Tokei-ihto atmete tief auf. Die Dakota hatten einen großen Kampferfolg errungen. Vor den Drohungen des Rauhreiters fürchtete sich der Häuptling nicht, und die Wut des Mannes war ihm eine Genugtuung, denn sie zeigte, daß die Dakota noch Gegner waren, die man fürchtete und darum haßte. Die Nacht brach herein, und der Indianer nahm zum

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