Der Junge mit den blauen Haaren
Brillengläsern verborgen. Sie trägt ein Kostüm in tristem Grau und flache Halbschuhe.
Sie könnte geradewegs aus dem Jahr 1870 kommen. Vermutlich tut sie das auch, wenn ich so versuche, ihr Alter einzuschätzen.
Ich beende meine Bestandsaufnahme und wende mich ohne ein Wort ab.
Als ich zur Tür gehe, ruft sie mir nach. „Wissen Sie, Miss Pattson, eigentlich nehmen wir so kurz vor dem Ende des Abschlusses niemanden mehr auf. Allerdings konnten wir dem Angebot Ihres Vaters nichts entgegensetzen.“
Eiskalt läuft es mir über den Rücken und ich verharre, darauf wartend, ob noch etwas kommt.
Das tut es.
„Aber Ihr Vater bestand darauf.“ Sie räuspert sich. „Ähm, auch darauf, dass Sie ein Einzelzimmer bekommen.“
Was soll das denn nun heißen? Werde ich auf dem Speicher untergebracht? „Auf Ihrem Flur liegen nur zwei weitere Zimmer. Alle wurden erst kürzlich renoviert. Sie werden also keinen Anlass zur Beschwerde haben, Miss Pattson!“
Das klingt beinahe drohend. Aber ich bin gewissermaßen geeicht darauf, den sorgenvollen Unterton in einer Stimme wahrzunehmen. Denn auch wenn ich noch nicht allzu viele Außenstehende kennengelernt habe in meinem Leben, ist es mir bisher immer gelungen, die Tonlage einer bestimmten Stimmung zuzuordnen.
Bei Mrs. McMillan höre ich ganz eindeutig Angst heraus.
Langsam drehe ich mich um. „Ich bin sicher, ich werde mich bei Ihnen wohlfühlen, Mrs. McMillan“, säusele ich und ernte mit meinen Worten ein erleichtertes Aufatmen, was mich in meiner Annahme bestätigt.
„Nun denn“, flötet sie, „nur das Zimmer neben Ihrem ist bewohnt. Von Kay Monroe, der einzigen weiteren neuen Mitschülerin, die wir noch aufgenommen haben. Sie ist heute Vormittag bereits angekommen. Leider konnte ich sie nicht selbst begrüßen. Aber ich bin sicher, Sie beide werden sich gut verstehen.“ Sie sagt es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Dann fügt sie, dieses Mal etwas weicher, hinzu: „Ich wollte Sie dann doch nicht alleine lassen da oben. Nur für den Fall, dass Sie sich fürchten.“
„Ich bin kein Angsthase“, sehe ich mich bemüßigt, zu antworten.
Entschuldigend hebt Mrs. McMillan beide Hände.
„Nein, nein, das behaupte ich auch gar nicht, Miss Pattson. Ich dachte nur, da Sie es gewöhnt sind, von einer Armada dienstbarer Geister umgeben …“
Ich lasse sie nicht ausreden. „Dies ist ganz und gar nicht der Fall, Mrs. McMillan“, sage ich und mein Tonfall ist nun überhaupt nicht mehr nett und höflich, „ich bin es durchaus gewohnt, alleine zurecht zu kommen.“
Es ist mir nie etwas anderes übrig geblieben.
„Und jetzt möchte ich gerne in mein Zimmer gehen, um meine Sachen auszupacken und mich etwas frisch zu machen. Ich möchte doch um nichts in der Welt zu spät zum Abendessen kommen. Sie entschuldigen mich!“
Ich greife nach meinem Trolli und ziehe ihn, ohne mich noch einmal umzusehen, hinaus. Die Türe schließe ich so sanft es mir in meinem aufsteigenden Zorn möglich ist.
Was in aller Welt hat mein alter Herr hier wohl vom Stapel gelassen?
Hat er Mrs. McMillan etwa unter Druck gesetzt, mich aufzunehmen?
War sein Geld nicht genug?
Doch egal, was auch immer es war – mein Vater hat es schon jetzt geschafft, dass ich ihr ein Dorn im Auge bin.
3)
I ch beiße meine Zähne zusammen, um die wütenden Tränen zurückzuhalten, als ich meinen Trolli die 126 Stufen hoch zerre, die in den dritten Stock des Castillian High-Internats führen. Die letzten Stufen lege ich rückwärts zurück und ziehe den Koffer mit beiden Händen ächzend hoch.
Endlich habe ich es geschafft. Mit einem kurzen Blick über die Schulter erkenne ich das Ende der Treppe, beuge mich schwer atmend über meinen Trolli … und lande im nächsten Augenblick auf meinem Hintern.
Eine erschreckt klingende, männliche Stimme rattert eine Flut von Entschuldigungen herunter.
„Oh … oh mein Gott! Es tut mir … Scheiße, Mann … bist du okay? Ich meine, bist du verletzt?“
Nur mein Stolz!
Ich schüttele den Kopf und dann sehe ich zum ersten Mal in das Gesicht des Jungen, dem mein Hintern sein unfreiwilliges Rendezvous mit den knarrenden Holzdielen zu verdanken hat … und ich erstarre vor Ehrfurcht. Sozusagen!
Er sieht aus wie der Junge in meinen Träumen … glaube ich zumindest.
Okay, seine Haare sind nicht wirklich so knallblau, wie ich dachte. Eher mitternachtsblau, aber die Spitzen sind so perfekt gefärbt, dass es aussieht, als seien sie es.
Halblang, kringeln sie sich im Nacken zu dieser
Weitere Kostenlose Bücher