Der Junge mit den blauen Haaren
ich merke, dass mein Zorn in Hilflosigkeit übergeht und ich aller Wahrscheinlichkeit nach gleich in Tränen ausbreche.
Diese Genugtuung werde ich ihm nicht gönnen.
„Es muss eben sein“, unterbricht mich mein Erzeuger mit eiskalter Stimme und einer Handbewegung, die klar macht, dass jedes weitere Wort von mir nur Luftverschwendung ist. „Ende der Diskussion! Sieh zu, dass du fertig wirst! Juan wird dich um 9:00 Uhr zum Flughafen bringen.“
Mit diesen Worten zieht sich sein Kopf wieder aus meinem Zimmer zurück und die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss.
„Ich hasse dich!“, schreie ich die Tür an.
Wenigstens vermute ich, dass ich ihn hasse. Denn Hass setzt voraus, dass man etwas für die Person empfindet. Und ich empfinde rein gar nichts für diesen Mann, der mein Vater ist. Und das ist nicht erst seit fünf Tagen so. Das ist so, seit ich alt genug bin, um eigenständig denken und fühlen zu können.
Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit laufen über meine Wangen. Jetzt wo er mich nicht mehr sehen kann, erlaube ich mir diese Schwäche.
Energisch wische ich die salzigen Rinnsale mit meinem Handrücken weg und stapfe ins Bad.
Wozu noch länger lamentieren. Es bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ich bin noch nicht volljährig, also habe ich zu tun, was mein Vater mir vorschreibt.
Und dazu gehört auch, dass er mich ohne eine vernünftige Erklärung, ein Jahr vor Vollendung meiner Schulausbildung, von Baton Rouge in Louisiana nach Seattle im Bundesstaat Washington, schicken kann.
Es ist ja nicht so, als wollte ich wegen ihm, also meinem Erzeuger, gerne hierbleiben. Aber ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich kenne nichts anderes.
Oder fast nichts anderes. Denn nachdem ich bis zu meinem 17. Lebensjahr zuhause unterrichtet wurde, durfte ich vor ein paar Wochen urplötzlich eine öffentliche, wenn auch ziemlich exquisite, Highschool besuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Gleichaltrige um mich und genoss es in vollen Zügen.
Daheim waren und sind immer nur Erwachsene um mich herum. Sie alle sind bei meinem Vater angestellt und tanzen nach seiner Pfeife. Ohne Wenn und Aber!
Wenn er sagt: spring!, fragen sie nicht mal: wie hoch?, sondern springen!
Einzig unser neuer Gärtner sieht in mir ein menschliches Wesen und schenkt mir ab und an ein aufmunterndes Lächeln. Gott, ich kenne nicht mal seinen Namen! Schniefend lasse ich meine Tränen unter der heißen Dusche einfach laufen und ergehe mich in Selbstmitleid.
Wäre ich alt genug gewesen, um noch irgendeine Erinnerung an meine Mutter zu haben, ich bin sicher, ich würde sie gerade jetzt schrecklich vermissen.
Leider starb sie bei meiner Geburt und ich habe sie nie kennengelernt.
Himmel Herrgott nochmal! Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht!
In der ganzen verdammten, riesengroßen Bude hier gibt es nicht ein einziges, winzig kleines Foto von ihr! Geschweige denn, einen Hinweis darauf, wie ihr Name ist.
Alle Fragen, die ich diesbezüglich an meinen Vater gerichtet habe, wurden und werden noch immer mit eisigem Schweigen ignoriert.
Hilflos schlage ich auf die Marmorkacheln in meiner Duschkabine ein. Der Schmerz in meinen Fingerknöcheln ist vorübergehend größer, als der in meinem Herzen. Ich heiße ihn aufs Herzlichste willkommen – dann fröne ich weiterhin meinem Kummer.
Ich kann nur hoffen, dass es meine Mutter ist, der ich ähnele. Sowohl was den Charakter betrifft, als auch das Aussehen. Wie er sehe ich jedenfalls nicht aus.
Während mein Vater ein kräftiger, großer, blonder Mann mit blassgrauen Augen ist, bin ich zierlich gebaut, beinahe winzig mit meinen nicht mal 1,60 m Körpergröße. Meine Haare sind von einem tiefen Dunkelbraun und kaum zu bändigen – weshalb ich sie auch kurz trage. Und meine Augen sind bernsteinfarben mit goldenen Lichtern darin.
So hat es jedenfalls Taylor ausgedrückt.
Ich seufze. Auch Taylor ist ein Grund, warum mir das Weggehen schwerfällt. Nicht, dass da etwas zwischen uns gewesen wäre. Aber müsste ich nicht weg, dann hätte durchaus mehr aus unserer lockeren Freundschaft werden können. Ganz sicher werde ich das allerdings nie erfahren, denn ich hatte nicht mal die Gelegenheit, mich von ihm oder sonst jemandem aus meiner Klasse zu verabschieden. Da mein Erzeuger mich immer sofort nach dem Unterricht abholen ließ, hatte ich, außer während der Schulstunden, keinen Kontakt zu den anderen Schülern.
Ich weiß nicht wo sie wohnen. Ich habe nicht mal eine Telefonnummer,
Weitere Kostenlose Bücher