Der Kirschbluetenmord
niederzuschlagen, machte nur deutlich, daß das Kaiserhaus sich dieser Tatsache bewußt war. Dennoch betrachtete die Mehrzahl der Samurai derartige Präventivschläge als überflüssig; denn sie hielten die Tokugawas für unbesiegbar.
»Trotzdem muß ich zugeben, daß sich seit der Ermordung seines Beraters Masatoshi, dieses hervorragenden Staatsmannes, die Dinge geändert haben«, fuhr Hachiya fort. »Ohne Masatoshis Rat und Führung scheint Shōgun Tokugawa Tsunayoshi die Lust an den Regierungsgeschäften verloren zu haben. Wenn ich nur daran denke, wie hart und entschlossen er vor acht Jahren bei dem Bestechungsskandal in Takata durchgegriffen hat! Dem dortigen Daimyō wurde sein Lehensgebiet aberkannt; seinem Stellvertreter befahl man, seppuku zu begehen, und alle anderen Abtrünnigen wurden in die Verbannung geschickt. Und wie sieht es heutzutage aus? Tsunayoshi geht ganz anderen Freizeitbeschäftigungen nach. Er lehrt seine Staatsdiener chinesische Philosophie und Klassik. Er läßt die alten Shintō-Feste wieder aufleben. Er ist ein Gönner des Theaters und gründet Hochschulen, an denen die Lehren des Konfuzius verbreitet werden.«
In Hachiyas sachlicher Stimme lag nicht der Hauch von Unzufriedenheit, Mißmut oder Verachtung. Da es überall Spione gab, wagte es niemand, den Shōgun offen zu kritisieren. Doch Sano hatte verstanden, und er wußte, daß für seine Kollegen gleiches galt: Tokugawa Tsunayoshi hatte Gegner – in diesem Zimmer ebenso wie in allen Schichten der Gesellschaft.
Yamaga schnaubte verächtlich. »Der oberste Kammerherr seiner Hoheit – der hochgebildete und liebenswerte Yanagisawa – übt inzwischen eine sehr große Macht aus«, sagte er und setzte seine Teeschale ab. Dann, ganz beiläufig, als wollte er das Thema wechseln, fuhr er fort: »Die Verbreitung gewisser sexueller Praktiken scheint zuzunehmen. Die Folgen sind nicht zu übersehen. Seine Hoheit … viele Einzelpersonen … das Schatzamt …« Er ließ seine Worte im Raum stehen.
»Hmmm.« Zurückhaltendes, zustimmendes Gemurmel der anderen erhob sich; sie nickten und schlugen die Augen nieder.
Sano unterdrückte ein Lächeln, als er von einer Dienstmagd sein ozen entgegennahm – ein Servierbrett mit einer Mahlzeit aus Reis, Fisch und eingelegtem weißem Rettich sowie einer Schale Tee. Yamagas Talent, seine Meinung auf unverfängliche Weise kundzutun, war beinahe so ausgeprägt wie bei Magistrat Ogyū. Wenngleich mit wenigen Worten, hatte Yamaga den anderen soeben zu verstehen gegeben, daß Gerüchte besagten, Kammerherr Yanagisawa würde Männer den Frauen vorziehen, ja, daß er eine Affäre mit dem Shōgun selbst gehabt habe, dessen Protegé er seit seiner Jugend gewesen war. Auf diese Liebesaffäre war der wachsende Einfluß des Kammerherrn zurückzuführen. Doch die Lust des Shōgun auf junge Männer konnte von Yanagisawa allein nicht befriedigt werden. Offensichtlich hatte der Shōgun einen Griff in die Schatzkammer getan und Regierungsgelder dazu benutzt, seine vielen Geliebten mit Geschenken zu überschütten, darunter einen Harem von Jungen. Dies wiederum hatte nicht nur unter der Dienerschaft im Palast des Shōgun Zorn hervorgerufen, sondern auch unter den mächtigen Daimyō. Allerdings galt dieser Groll nicht den sexuellen Vorlieben des Shōgun. Viele Samurai praktizierten gleichgeschlechtliche Liebe; sie betrachteten diese Art von Sexualität als einen Ausdruck, den »Weg des Kriegers« zu beschreiten. Der Zorn der Höflinge und der Daimyō galt vielmehr der unverhohlenen Günstlingswirtschaft des Shōgun.
Das Gespräch wandte sich wieder allgemeineren Themen zu. Während des Essens zu reden galt zwar als Stilbruch, doch die anderen hatten ihre Mahlzeit inzwischen beendet und betrachteten es offensichtlich nicht als Unhöflichkeit, zu schwatzen, während Sano noch bei ihnen saß und frühstückte. Da Sano wie jeden Morgen aus der Gesprächsrunde ausgeschlossen war, hing er seinen eigenen Gedanken nach, die sich diesmal um ihn selbst und seine Amtskollegen drehten. Wie groß der Unterschied zwischen ihnen und den Kriegern aus den alten Zeiten doch war! Statt sich am Morgen im Freien zu versammeln und über Strategien vor einer Schlacht zu diskutieren, frühstückten sie in aller Ruhe und plauderten über Politik und Hofklatsch. Hachiya, zum Beispiel, der sich soeben über seine Probleme mit einem bestimmten Beamten des Schatzamts ausließ, war nicht annähernd mit General Hōjō Masamura zu vergleichen, der das
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