Der Klavierstimmer
nicht festlegen, so daß es vom Geld her auf dasselbe hinauslief, ob ich sie hier oder in Berlin kaufte. Doch ums Geld ging es ohnehin nicht, das wußte ich nur zu gut. Worum es ging, war etwas ganz anderes, das mich bis zu der Stunde in Atem hielt, als das Reisebüro schloß: Würde ich überhaupt hierher zurückkommen?
Plötzlich nämlich brach die Erinnerung an die ersten Tage und Wochen in dieser Stadt über mich herein, und sie hatte eine solche Wucht, daß alles, was danach gekommen war, nicht mehr zählte. Das Spätere erschien an jenem Nachmittag wie eine Fron, die ich in der Fremde auf mich genommen hatte, weil ich nicht hatte zurückkehren dürfen. Zu dir. Doch jetzt war das Exil vorbei, in weniger als zwei Tagen war ich bei dir, und dann gab es nicht mehr den geringsten Grund, wieder herzukommen. Noch jetzt, hier an Vaters Schreibtisch, kann ich die Gewalt jener Gefühle nachempfinden, ich brauche nur die Augen zu schließen, und schon spüre ich den Sog.
Am ehesten wirst du es vielleicht verstehen, wenn ich dir sage: Den Reisewecker, den ich damals mitnahm, habe ich in den sechs Jahren nie umgestellt, er steht noch jetzt auf dem Nachttisch in Santiago und zeigt die Zeit von Berlin und Paris. In den ersten Wochen habe ich im Inneren ausschließlich nach einer Zeit gelebt, von der ich annahm, es sei deine. Ich stand auf und ging zu Bett nach chilenischer Zeit, gewiß. Doch kaum war ich wach, ging mein Blick zu der Uhr, die für dich tickte. Das war, als ich noch keine Arbeit hatte und mich noch nichts mit dem Alltag des neuen Landes verband. Ich weiß nicht mehr, was ich den Tag über machte. Doch oft schlüpfte ich, ohne daß es Absicht gewesen wäre, in deine Zeit, es wurde Abend auf deiner Uhr, und wenn ich dann hinaustrat, merkte ich mit ungläubigem Staunen, daß erst früher Nachmittag war. Später, als ich zu arbeiten begann, fing mich die chilenische Zeit schließlich ein. Aber der Blick auf deine Uhr, wenn ich aufwachte oder heimkam, blieb, nur sank alles tiefer nach innen, ohne deswegen an Macht zu verlieren. Einmal, während ich weg war, blieb die Uhr stehen, die Batterie war leer. Es war, als sei nun die letzte Verbindung zu dir gerissen. In Panik rannte ich zum Geschäft und kaufte einen riesigen Vorrat an Batterien. Nie wieder durfte so etwas geschehen.
Ich habe sie niemals losgelassen, deine Zeit, nicht einen einzigen Augenblick lang.
Auf der Hinreise damals, als die Dinge im Flugzeug zur Ruhe gekommen, die Gespräche verstummt und die Lichter ausgegangen waren, so daß im Dunkel nur noch das Rauschen der Triebwerke zu hören war, spürte ich mit stillem Entsetzen, daß ich nicht wußte, wie ich das machen sollte: Zeit ohne dich zu durchleben. Zeit war immer Zeit mit dir gewesen, geteilte Zeit. Eine andere Zeit hatte ich nicht gekannt. Die Zeit, sie war unsere gemeinsame Schöpfung gewesen, entstanden und entfaltet im gemeinsamen Erleben. Es klingt verrückt und unglaubhaft, aber so war es: Ich hatte nie daran gedacht, daß ich eines Tages in eine leere Zukunft würde hineinleben müssen, eine Zukunft voll von deiner Abwesenheit. Daß einer allein einer endlosen Zukunft gegenüberstehen sollte: Ich fand es monströs. Die Zeit, sie wurde zu meinem ungreifbaren, grausamen Feind.
Das gibt es: daß man mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß, und doch ist es nicht Langeweile. Langeweile setzt Vertrautheit voraus. Gerade diese Vertrautheit, die zur Monotonie geworden ist, läßt die Zeit lange erscheinen. Ich sehnte mich danach, mich langweilen zu können.
Die winterliche Schärfe in der Luft, als ich Mitte Juli ankam: Sie hat sich unauslöschlich in mein Gesicht eingegraben. Selbst im heißesten Sommer schien ich sie zu spüren, gewissermaßen unter dem Schweiß, den man sich ständig aus dem Gesicht wischen mußte. Auch jetzt spüre ich sie, trotz der Wärme, die Vaters Schreibtischlampe ausstrahlt. Ich hatte das Gefühl, daß meine Haut zu dünn war für die trockene Kälte, und noch mehr für die Sonne. Als könnte mich diese milchige Sonne verbrennen. Immerzu suchte ich den Schatten. Dann fror ich. Meine Haut schien ganz und gar untauglich fürs Überleben.
Was in der ersten Zeit unerträglich war: sich durch die Stadt zu bewegen mit der Losgelöstheit eines Touristen, aber ohne dessen Neugier. Die Stadt: eine leblose Kulisse, weiter nichts. Ich begann auf meine Neugier zu warten. Auf die Neugier dem neuen Land gegenüber - eine Neugier, die mir zu Gegenwart verhelfen könnte.
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