Der Klavierstimmer
vom letztenmal zu sehen waren.
In diesem Augenblick erlebte ich zum erstenmal, wie sich Pacos Blick aufhellte. Die Veränderung in seinen Augen war gewaltig, noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Wenn die Augen vorher wie eine Schranke gewesen waren, die sein Inneres abgeriegelt hatte - jetzt öffneten sie sich und ließen meinen Blick passieren. Es war, als begegneten wir uns erst jetzt richtig. «¡Hola!» sagte ich und lächelte ihn an in der Hoffnung, er möge das Lächeln erwidern. Doch seine Gesichtszüge, die indianische Herkunft verraten und manchmal wie geschnitzt wirken, blieben unbewegt. Statt dessen geschah etwas anderes: Er streckte mir den Arm mit der Faust entgegen, hielt ihn für einige Augenblicke reglos von sich weg und öffnete die Faust dann ein bißchen, so daß der Sand herausrieselte und vom Wind verweht wurde. Die meiste Zeit hielt er den Kopf dabei gesenkt. Doch ab und zu hob er ihn leicht und warf mir von unten her einen kurzen Blick zu, wie um sich zu vergewissern, daß ich ihm beim Spiel mit dem Sand noch zusah. Es war das erste Mal, daß Paco und ich etwas teilten .
Ich war so sehr gefangengenommen von der Szene, daß ich die Frau vom letztenmal erst bemerkte, als sie sich neben Paco stellte und ihm die Hand auf die Schulter legte, wie um ihn ihres Schutzes zu versichern.
«Was wollen Sie von dem Jungen?»fragte sie, und in ihrer Stimme lag eine Schärfe, vor der ich mich auch später immer wieder fürchten sollte, selbst wenn sie nicht mir galt.
«Nichts», brachte ich nach einer Weile heraus,«ich will nichts von ihm. Er wollte, daß ich die Hände auf die rote Farbe lege, genau wie beim letztenmal. Und er zeigte mir das Spiel mit dem Sand.»Da sie nichts sagte, fügte ich hinzu:«Das verbindet uns jetzt.»
Diese letzte Bemerkung mochte die Frau nicht. Ich weiß nicht, woran ich das erkannte, aber ich erkannte es. Sie schien mit widersprüchlichen Regungen zu kämpfen. Schließlich löste sich ihr kühler, beinahe feindseliger Ausdruck auf und machte der Andeutung eines Lächelns Platz.
«Jetzt verstehe ich», sagte sie.«Er war in den letzten Tagen ganz wild auf rote Sachen. Ganz gleich, was es war, Hauptsache, es war rot. Alles andere ließ er liegen. Von den Buntstiften ist der rote inzwischen der kürzeste. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Das müssen Sie sein. Es ist typisch für ihn, daß er die Dinge in dieser Weise ineinanderfließen läßt. Und auch, daß das zweite Mal genau so sein muß wie das erste.»Sie zögerte.«Ich glaube, er möchte, daß Sie wiederkommen.»Und nach einer weiteren Pause:«Das ist etwas Seltenes bei ihm. Etwas sehr Seltenes.»
So lernte ich Paco kennen und Mercedes Valdivieso, seine Pflegerin. Er hat dichtes, schwarzglänzendes Haar, das ihm wie einem Mädchen in Locken bis auf die Schultern fällt. Wenn ich ihn sehe, bin ich in ständiger Versuchung, mit der Hand über dieses Haar zu streichen. Mercedes, die sich nicht nur als seine Pflegerin, sondern insgeheim auch als Therapeutin versteht, hat es mir strikt verboten. Als ich es in ihrer Abwesenheit trotzdem tat, erstarrte Paco mitten in der Bewegung. Es war die heftigste menschliche Reaktion, die ich jemals erlebt habe - gerade weil sie so lautlos geschah. Danach habe ich ihn lange Zeit nicht mehr zu berühren versucht.
Eines Tages dann begann er, sich stets von neuem genau so neben mich zu stellen wie damals beim ersten Streicheln. Es geschah immer dann, wenn wir allein waren. Weil er mit so großer Verzögerung zum Ausdruck kam, habe ich seinen Wunsch erst spät erkannt. Auch dann habe ich noch gezögert. Als ich es schließlich tat, berührte ich seinen Kopf nur ganz kurz. Paco zitterte, als könnte die Berührung seine Vernichtung bedeuten. Die Angst und der Wunsch hielten sich die Waage. Er erstarrte nicht und rannte auch nicht weg. In der Folgezeit entstand zwischen uns ganz langsam eine körperliche Beziehung, indem die Berührungen allmählich ein bißchen länger wurden. Diese Entwicklung wurde unterbrochen durch Rückschläge, wo es schien, als sei die mühsam aufgebaute Vertrautheit wieder verlorengegangen. An solchen Tagen mißlang mir alles. Die Berührung von Pacos Haar, sie ist als Empfindung in meine Handflächen eingegraben, ich brauche mir den Jungen dazu nicht vorzustellen, es ist das Gedächtnis der Hand. Auch jetzt, wo ich Tausende von Kilometern entfernt an Vaters Schreibtisch sitze, spüre ich sein Haar, das kräftig und zugleich seidenweich ist. Es
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