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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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mehr von seiner Art gab, die alle ihre Rolle im Leben spielten, während sie zugleich auf der Anwesenheitsliste des Jenseits verzeichnet waren. Wie seltsam das Leben doch war – und der Tod genauso.
    Arzee sprang die Stufen hinunter und blieb im ersten Stock kurz stehen, um in den Korridor zu linsen, doch er sah nur eine Katze, die mit aufgestelltem Schwanz auf der Pirsch war. Vielleicht war Ranade ja in seinem Zimmer an der Arbeit. Arzee grinste und ging weiter.
    Schon auf dem Weg nach unten hörte er den Radau, und als er auf der schmalen Straße angelangt war, drohte er, in einer Schar kreischender Schulkinder unterzugehen, die aus dem Tor der am Ende der Straße liegenden Schule gequollen waren und nun in ihrem Blau und Weiß an ihm vorüberstürmten. Der Anblick von Kindern verstörte Arzee immer, und zwar nicht nur, weil er sich im Vergleich zu ihnen so alt fühlte. Obwohl sie nicht älter als zehn oder elf waren, überragten sie ihn alle. Ihre glatten Wangen schienen sein stoppeliges Blau zu verlachen, ihre wachsenden Gliedmaßen sich vor seinen verkürzten zu dehnen und zur Schau zu stellen. Ihre neugierigen Blicke brachten ihn aus der Fassung – es sollte nicht erlaubt sein, sie so schweifen zu lassen! Er blieb stehen, bis der Sturm vorbeigetobt war und nur noch ein paar Nachzügler kamen, die Eis schleckten, Murmeln tauschten oder Papierflugzeuge fliegen ließen. An diesen letzten Kindern ging er vorüber, und er erwiderte ihr Gaffen, bis sie den Blick abwandten. Er sprang nach einem niedrigen Ast und rupfteeine Handvoll Blätter ab. Die Wolken am grauen Himmel glichen träge grasenden Schafen, und das Poltern dahinter wirkte seltsamerweise beruhigend.
    »So weit ist es nun also gekommen«, sann er vor sich hin, und sein gedrungener Körper schien von diesen inneren Regungen regelrecht zu pulsieren. »Es ist nicht das beste Ergebnis, aber es ist immerhin etwas, und etwas ist besser als nichts. Ha – das ist es doch, wovon mich alle immer überzeugen wollten: dass etwas besser ist als nichts. Es hieß, ich solle dankbar dafür sein, dass ich nicht blind oder verwaist oder arbeitslos bin, sondern nur die Bürde der Kleinwüchsigkeit trage. Die haben doch keine Ahnung, was Kleinwüchsigkeit bedeutet – für die ist das nur ein Wort. Aber jetzt ist es vorbei mit den Brosamen! Auf geht’s! Der Himmel hängt so tief, dass es mir vorkommt, als könnte ich ihn mit einem Sprung erreichen. Und selbst wenn das nicht geht, werde ich ihm bald nahe sein, denn der Raum dort oben ist jetzt ganz mein. Ich werde die Körperstolzen wie Tiere, wie Vieh beugen und mich wie ein aufsteigender Stern über sie erheben.« Er reckte die Arme gen Himmel, und die ganze Drangsal seines Lebens schien ihm durch diesen Augenblick wettgemacht. »Platz da, ihr alle, jetzt komme ich! Und ich werde weiter Selbstgespräche führen, weiter die Worte kommen lassen. Welch heiße Worte! Heute entstehe ich neu.«
    In seinem Überschwang verspürte er Mitleid mit den Freunden, die er gerade verlassen hatte, denn ihre Welt war so klein und eng, und ihrem langweiligen Leben fehlten die Gipfel und Täler des seinen. Sie lebten gleichförmig vor sich hin und wussten nicht, was es hieß, etwas wirklich zu
fühlen
. Und von seinen Freunden wanderten seine Gedanken weiter zu seiner Mutter – seiner alten Mutter, für die er, wie das nunmal so war bei Müttern, immer noch ein Kind war und die befürchtete, er leide, wenn sich auch nur eine Fliege auf seinem Arm niederließ. Wie sehr sich Mutter über diese Neuigkeit freuen würde! Ihr Glück würde noch größer sein als seines, ja es krönen. In seiner Erregung begann er an die Ehefrau zu denken, die auf dem Weg zu ihm war, das Mädchen mit Hüften, Brüsten und langem Haar, mit Armreifen und Ohrringen, das mit dem Moment, wo es sein Zuhause betrat, sein Leben verändern würde. Sein Bruder Mobin würde aus dem Zimmer ausziehen müssen, das sie teilten, und statt seiner würde Arzees Frau dort wohnen – wenn das mal kein guter Tausch war! Arzee lachte laut auf, als er sich Mobins schlaksige Gestalt – so lang, wie er selbst kurz war – auf dem Sofa im Wohnzimmer ausgestreckt vorstellte, die Füße vorwurfsvoll über den Sofarand ragend, während er, Arzee, sich drinnen vergnügte. Anders zubereitetes Essen – er war die hingeschluderten Hervorbringungen seiner Mutter leid. Eine neue Art von Unterhaltung zu Hause – die immergleichen lahmen Gespräche über die Medikamente seiner Mutter und das

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