Uhrwerk Venedig (German Edition)
Emilia Dux
FLIEG, GOLIATH
Pietro Marzo fühlte ein flüchtiges Kribbeln durch seinen Körper huschen, als ihm Giulia Pavoni ein Lächeln schenkte. Sie war die Tochter seines größten Konkurrenten, das Erbe von Filippo Pavoni. Und sie war bildschön, herrlich anzusehen, wie ein klarer Sommermorgen, dessen Frühnebel von den ersten Sonnenstrahlen berührt wird. Selbst hier, im abgedunkelten Hinterzimmer seines Lehrmeisters überstrahlte sie die uralten Werkbänke mit ihrer Anmut, gab den Metallspänen und dem Geruch von Öl eine höhere Bedeutung. Wäre ihr Vater doch nur ein anderer, dann könnte Pietro sein Korsett, geschnürt aus Misstrauen, abstreifen. Er seufzte innerlich, genoss den Augenblick so lange es ging und nahm ihr dann sein Gesellenstück behutsam aus der Hand. Seit wenigen Wochen bestand ihre heimliche Freundschaft.
Giulia nickte wohlmeinend. »Wie lange hast du an der Heuschr-«, sie machte eine kurze Pause und sah aus, als rüge sie sich im Geiste, »an dem Grashüpfer gearbeitet?«
»Ich habe letztes Jahr etwa zur Zeit des Karnevals die Pläne entworfen.« Er besaß kaum Erinnerungen an das Spektakel, die Masken, die mit geschmückten Gondeln überfüllten Kanäle. Da war lediglich diese Vision, die alles andere überstrahlte. Jetzt war sie vollendet.
»Aber Pietro«, sagte sie, »das sind fünfzehn Monate. An diesem winzigen Ding kannst du unmöglich so lange gearbeitet haben.«
»Giulia«, entgegnete er milde, »alles braucht seine Zeit. Die Größe ist nicht entscheidend. Dieses Gerät sieht aus wie ein gewöhnliches Insekt, doch es verfügt über die dreifache Sprungkraft eines echten Grashüpfers.« Während er das sagte, hielt er das Stück auf seiner leicht gewölbten Handfläche näher zur Öllampe. Liebevoll blickte er auf die kraftvollen und doch so winzigen Beinchen. »Übertragen auf größere Maßstäbe, Giulia, stell dir das nur vor!«
»Auf so etwas verstehe ich mich nicht besonders«, meinte sie. Sanft brachte sie Pietro dazu, das Metallinsekt wieder zu verstauen. Dann schlang sie ihre Arme um ihn. Sie musste nur leicht auf die Zehenspitzen gehen, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein. Pietro fühlte ihre weichen Lippen auf den seinen, er hatte keine Zeit, sein Glück zu fassen. Ihre Küsse wurden schnell fordernd, sie drückte ihn auf die Werkbank, berührte ihn an tausend Stellen, ihr Atem ging schneller. In Pietros Hose wurde der Platz knapp. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Ich will dich, jetzt, gleich, hier auf der Stelle.« Er schluckte, drehte den Docht der Lampe zurück und konnte nicht mehr denken.
In jener Nacht bestand Giulia darauf, bei ihm zu bleiben. Er entgegnete matt: »Ich besitze nicht einmal ein Bett. Nur eine schmale Pritsche hinter dem Vorhang dort drüben.« Doch Giulia ließ sich nicht beirren.
Sie lagen Haut an Haut. Noch glühten die Körper. Giulia vergrub ihr Gesicht in Pietros Nacken und atmete kaum hörbar. Nach einer Weile spürte er, wie die Feuchtigkeit ihrer Atemluft auf seinem Hals kondensierte. Alles erschien ihm unwirklich. Ob Giulia, die Reichtum und eine ganze Schar von Dienern gewohnt war, wusste, mit wem sie gerade ihr Nachtlager teilte? Als ihre erhitzten Leiber etwas abgekühlt waren, breitete Pietro eine Decke über sich und Giulia aus. Es war noch nicht lange her, da besaß er nichts Materielles, nicht einmal etwas so einfaches wie eine Decke. Nur einen handtellergroßen Goliath-Käfer, den er sorgfältig in einem Holzkistchen aufbewahrte. Mit fünf Jahren war er in seinen Besitz gelangt. Es war purer Zufall gewesen, dass sich der in Afrika beheimatete Riesenkäfer in einer Box verkrochen hatte, die nach Venedig verschifft worden war. Der Waisenjunge versuchte, ihn als Haustier zu halten, doch die ungewohnte Nahrung und das Klima rafften das Insekt dahin. Goliath war das einzig Wertvolle, das der Junge je im Leben besessen hatte, das ihm sagte, auch er habe ein Recht auf Träume und Ziele. Pietro war todunglücklich. Bis zu jenem Tag, da er die Arbeiten von Filippo Pavoni bei einer Ausstellung am Markusplatz sah. Er erinnerte sich genau, der größte Automatenbauer unserer Zeit, hieß es. Pietro war sicher, dass sein geliebter Käfer eines Tages wieder flöge. Er hörte noch genau das tiefe Brummgeräusch, das die Flügel erzeugten. Brrwwmmhh. Brrwwmmhh... Mit der Erinnerung legte sich Schlaf über ihn wie ein schwarzes Tuch.
Pietro war verwirrt, noch halb im Traum. Er fühlte sich, als hätte ihn eine Gondel
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