Der kuerzeste Tag des Jahres
und seine Familie gerade kennenlernte. Aber sie hatten sich verändert; sie waren dunkler geworden, intellektueller, so wie Pearl. Hannah hatte gehörigen Respekt vor dieser geballten Intelligenz, bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie alle aufeinandertrafen. Was üblicherweise in Melbourne geschah. Pearl kam nicht gern nach Sydney. Sie hielt es dort für zu gefährlich.
Ein auffälliger Unterschied zwischen Samuel und Theodora offenbarte sich schnell, kurz nachdem Theodora mit fünf Jahren eingeschult worden war. Das war Theodoras Notizbuch.
Theodora hatte sehr früh Lesen und Schreiben gelernt – nicht wie ein Wunderkind, mit zwei oder drei Jahren, aber auf jeden Fall binnen ihres ersten Schuljahrs. Und sobald sie es gelernt hatte, begann sie Aufzeichnungen zu machen. Leute zu beobachten und dann aufzuschreiben, was sie sagten oder taten.
Anfangs fanden Hannah und Elkanah das liebenswert, es war ein Anlass zu Freude und Stolz. »Meine Sekretärin«, erklärte Elkanah gut gelaunt seinen Freunden, während seine kleine Tochter ihn mit gerunzelter Stirn überallhin verfolgte, in dem einen plumpen, farbverschmierten Händchen einen dicken Buntstift aus dem Kindergarten, im anderen ein handelsübliches Schreibheft. »Sie arbeitet an meiner Biografie.«
Aber wie alle Errungenschaften einer Kindheit, und sehr zum Leidwesen aller Kinder, verwandelte sich, was eben noch als Liebenswürdigkeit gegolten hatte, rasch in einen Störfaktor.
»Wirst du endlich mal dieses verdammte Buch aus den Fingern legen!«, schrie Elkanah sie an, als er sie auf dem Rücksitz des Wagens anzuschnallen versuchte. »Jetzt hast du mir fast noch den Bleistift ins Auge gerammt!«
Daddy hat geflucht, trug Theodora ein, als sie losfuhren. Er hat ›verdammtes Buch ‹ gesagt.
»Sie wächst da schon noch heraus«, beruhigte Hannah ihn.
»Klar, aber in was wächst sie dafür rein?«, murrte Elkanah mit einem bösen Blick über die Schulter auf seine letzte Tochter, die die Mine des Bleistifts gerade mit den Zähnen schärfte.
Theodora wuchs aus gar nichts heraus. Was als Freizeitbeschäftigung begonnen hatte, wurde zur Sucht. Man sah sie so gut wie nie ohne Notizbuch und Stift. Beim Frühstück, im Bus, auf Partys und bei Picknicks. Selbst im Badezimmer. Hätte irgendwer ihr beim Schreiben über die Schulter geschaut, es wäre ihm kaum etwas Interessantes aufgefallen. Da war nichts, was man als persönliche Anmerkung hätte werten können, denn sie beschrieb grundsätzlich nur die Handlungen und Äußerungen anderer Menschen, ähnlich wie ein Astronom das Kreisen von Planeten beobachtet, ohne jene mächtigen Kräfte zu kommentieren, die sie in Bewegung versetzen. Sobald ein Notizbuch vollgeschrieben war, versah sie es mit einem Datum, versiegelte es mit Klebefilm, schloss es in ihrem Schrank ein und begann ein neues.
Zu Elkanahs großem Unbehagen verfasste sie sogar Notizen zu seinen Auftritten. Hannah hatte, kaum dass die Kinder alt genug waren, damit begonnen, sie zu Elkanahs Premieren mitzunehmen. Selbst Hannahs Vater, Elias, der den Anblick seines die ganze Bühne einnehmenden, in roter Seide und weißen Socken steckenden Schwiegersohns als peinigend empfand, pflegte sie zu begleiten, er selbst im gediegenen Abendanzug und schwarzer Fliege.
Theodora nahm ihre kleine grüne Plastikhandtasche mit ins Theater, und sobald die Lichter erloschen, zog sie Notizbuch und Stift heraus und begann im Dunkeln darin herumzukritzeln. Sie beobachtete Elkanah auf der Bühne und kaute dabei auf ihrer Unterlippe, als wäre sie die Zuschauerin der letzten Runde eines Pferderennens, in dem sie eine Menge Geld gesetzt hatte. Eigentlich mochte sie gar keine Opern. Schwerfälligen, schicksalsschwangeren Liebesgeschichten konnte Theodora nichts abgewinnen. Wenn es um gescheiterte Herzensangelegenheiten ging, lautete Theodoras Motto avanti, avanti – nicht dass Theodora, daran änderten auch ihre zwölf Jahre nichts, bereits jemals verliebt gewesen wäre.
Nach der Vorstellung brachte Hannah die Kinder mit zur Premierenfeier. Hannahs Vater zog es vor, sofort ein Taxi nach Hause zu nehmen – er fühlte sich unbehaglich in der Gegenwart von Opernkünstlern, ob sie nun Kostüme trugen oder nicht. Die Premierenfeier glich der Umkleidekabine nach einem Football-Endspiel: ein Raum voller verschwitzter, schwerer, überschwänglicher Menschen. Und kaum einer war so überschwänglich wie Elkanah. Hannah war sich nie sicher, was sie zu den Kollegen ihres Mannes nach
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