Der kuerzeste Tag des Jahres
Samuel. Und Elias war es nicht gewesen, denn Elias hatte tief und fest geschlafen. Also, wer dann?
Samuel glaubte nicht an Gott. Niemand, den er kannte, glaubte an Gott – jedenfalls niemand, den er besser kannte. Seine Lehrer in der Schule, diejenigen, die laut Gebete lasen und ihm das Hebräisch der Bibel beibrachten, mussten wohl an Gott glauben, schätzte er. Aber sein Vater tat es nicht, und auch nicht seine Mutter oder sein Großvater; weder Pearl noch Rhody, und auch von seinen Halbschwestern glaubte keine an Gott. Oder falls doch, taten sie es heimlich.
Wer also hatte seinen Namen gerufen? Samuel war ein so alter, alter Name. Älter als alle Könige Israels. Vielleicht hatte es an der Malaria gelegen. Sie ließ einen, wenn der Körper überhitzte, Dinge hören und sehen, die nicht existierten, hatte der Arzt ihm erklärt. Vielleicht hatte er ihn sogar selber ausgerufen, hatten seine dröhnenden Gedanken das Zimmer wie mit einer Stimme erfüllt.
Aber es war Samuel egal, woher die Stimme gekommen war. Es kam, alles in allem, nicht wirklich darauf an. Worauf es ankam, war, dass er geantwortet hatte. Er hatte seinen Namen rufen hören und er hatte geantwortet. Er war nicht Theodora, mochte er auch ihre Kleidung getragen und ihren Reisepass besessen haben. Er war nicht Grace, Annie, Elizabeth oder Bea. Er war weder Elkanah noch Hannah oder Elias. Keiner von ihnen.
Samuel.
Er schrieb seinen Namen auf den Einband des Buchs, unter die grasenden Kängurus. Samuel. Samuel Cass. Er blätterte es auf. Es war kein schönes Buch mit einem goldenen Schloss und einem winzigen goldenen Schlüssel, aber jetzt, in diesem Augenblick, betrachtete er die blassblauen Linien in einer Art verwundertem Staunen.
Er schlug die weichen, glänzenden Seiten um, weiter und weiter, bis er beim einundzwanzigsten Juni angekommen war. Nervös hielt er den Kugelschreiber über das Papier. Konnte er – konnte er wirklich etwas schreiben?
Samuel schrieb:
Als mein Großvater ein kleiner Junge war, wohnte er in einer großen schönen Stadt in Deutschland, die München hieß, zusammen mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Großvater. Seine Schwestern waren schon alle erwachsen. Er wollte auf einem Schiff in die Südsee reisen und die Welt sehen. Sein Geburtstag war am einundzwanzigsten Juni, dem längsten Tag des Jahres.
Und Samuel schrieb weiter. Jetzt hatte er etwas, worüber er schreiben konnte.
Sein allererstes Buch.
Ursula Dubosarsky
Ursula Dubosarsky, Jahrgang 1961 , gilt als eine der talentiertesten und originellsten Schriftstellerinnen Australiens. Sie ist die Autorin von zahlreichen Büchern für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die vielfach ausgezeichnet worden sind. Ursula Dubosarsky hat Englische Literatur studiert und lebt mit ihrer Familie in Sydney.
Vollständige E-Book-Ausgabe der 2013 im Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.
ISBN E-Book 978-3-7641-9017-0
ISBN Printausgabe 978-3-7641-7006-6
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Die Originalausgabe mit dem Titel The First Book of Samuel erschien 1995 bei Penguin Books Australia Ltd.
Text © Ursula Dubosarsky 1995
Aus dem Englischen von Andreas Steinhöfel.
Umschlaggestaltung von Geviert, Grafik & Typografie, Conny Hepting unter Verwendung eines Fotos von Plainpicture/©Niall O’Leary
E-Book-Produktion durch Greiner & Reichel, Köln
Copyright © 2013 by Ueberreuter Verlag, Berlin – Wien
Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.de
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