Der Kuss der Russalka
Die Tote aus der Newa
Johannes hatte sich an die Wölfe und Winterstürme gewöhnt, an die Kühle der Sommernächte, an den Sumpf und an die Rohheit, mit der die Leibeigenen und die schwedischen Kriegsgefangenen zur Arbeit angetrieben wurden. Aber an die Toten würde er sich nie gewöhnen. Sie starben am Fieber, an Auszehrung oder, wie dieses Mädchen hier, im Wasser. Es war nichts Ungewöhnliches. Wenn man dem sumpfigen Flussland eine Stadt abtrotzte, verschlangen die Wellen den einen oder anderen und spuckten ihn bleich und aufgedunsen wieder aus. »Dieses Piterburch ist die Hölle«, hatte gestern erst der alte Gehilfe gemurmelt, der in der Tischlerwerkstatt von Johannes’ Onkel arbeitete. Nun, wenn man an einem trüben Tag wie diesem am Ufer der Newa stand, musste man ihm Recht geben.
Die Menschenmenge, die sich um das tote Mädchen geschart hatte, wogte um Johannes. Ellbogen trafen seine Seite, sein Brustbein und drängten ihn zurück. Viel konnte er nicht erkennen, nur durch die zuweilen aufblitzenden Lücken zwischen den Köpfen bot sich das Bild eines nackten Arms, der von einem Brett baumelte. Bei diesem flüchtigen Blick staunte Johannes darüber, wie weiß Haut sein konnte. Vergeblich versuchte er sich aus der Menge zu schieben, stattdessen drückten ihn einige Neugierige noch näher heran. Gemurmel umbrandete ihn und verstärkte die Ahnung von Gefahr, die ihn mahnte, sich sehr schnell einen Fluchtweg zu suchen.
»Aufgespießt!«, flüsterte ein Bauer ohne einen Zahn im Mund und bekreuzigte sich. »Mord!«
Das Getuschel wurde immer lauter, sprang von Mund zu Mund. Johannes stemmte sich gegen einen untersetzten Aufseher und schaffte es, sich ein Stück nach außen zu kämpfen. Es war höchste Zeit, zu verschwinden. Wenn die russischen Fronarbeiter von Mord sprachen, war er als »Ausländer« nicht gerade sicher. Zar Peter liebte seine deutschen und holländischen Zimmerleute, die er für die Errichtung seiner Stadt aus Moskau und fremden Ländern geholt hatte, aber das einfache Volk, das aus allen Teilen des Zarenreichs zur Hilfsarbeit rekrutiert worden war, sah die Sache anders.
»Jetzt ermorden die Ketzer schon unsere Mädchen!«, knurrte nun eine Bauersfrau.
»Wo willst du denn hin?«, sagte eine heisere Stimme hinter Johannes. Schon packten ihn mehrere Hände grob an Hemd und Haaren. Johannes ließ ihnen keine Zeit, weitere Vermutungen anzustellen, er wand sich geschickt aus dem Griff und schlug eine der schmutzigen, schlammverschmierten Hände weg. Er hatte Glück, dass er hoch gewachsen war und von seinen vier Brüdern früh gelernt hatte, wie man sich prügelte. Stoff riss, ein Hieb traf ihn in die Seite, aber er ließ sich nichts gefallen. Oft genug hatte er solche Pöbeleien gemeistert, als er noch in der Deutschen Vorstadt in Moskau gelebt hatte.
Beinahe war es ihm gelungen, sich freizuboxen, als ein Lederriemen über seinen Kopf hinwegzischte und mit einem hässlichen Klatschen auf Fleisch landete. Der Kerl, der sich eben wieder auf Johannes stürzen wollte, brüllte auf und hielt sich die Wange. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor, an denen ein helles Büschel von Johannes’ schulterlangem Haar klebte. Die Menschenmenge verstummte. Dutzende von entsetzten Augen starrten einen Reiter an. Blinzelnd sah sich Johannes um und erkannte erleichtert Oberst Derejew, der in aller Ruhe seine Peitsche wieder einrollte. Derejew unterstand direkt Zar Peter. Und was in diesem Moment noch wichtiger war: Er kannte Johannes und seinen Onkel. Nicht dass er den alten Zimmermann und Tischler und seinen Lehrjungen besonders mochte, aber er würde nie zulassen, dass ein Ausländer von einer aufgebrachten Meute verprügelt oder womöglich gar gelyncht wurde. Derejew würdigte Johannes keines Blickes, sondern sprang vom Pferd und ging geradewegs auf das Mädchen zu. Die Menge teilte sich und floss hinter ihm nur zögernd wieder zusammen. Langsam schwoll das Gemurmel wieder an, dann hörte Johannes ersticktes Schluchzen und Gebete. Die Stimme der Vernunft ermahnte ihn endlich zu gehen, doch er blieb stehen und spähte zwischen den Leuten hindurch. Derejew beugte sich am Kopfende der Bahre zu dem Mädchen hinunter und hob das schmutzige Tuch, das die Leiche bedeckte, ein wenig an. Eine zerfetzte und überraschenderweise blutleere Schulter wurde sichtbar. Leblos ruhte die linke Hand des Mädchens neben der Wunde. Langes Haar, schwarz und voller Newaschlamm, war über das Gesicht gebreitet. Johannes blieb
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