Der letzte Beweis
sammeln Nat und Barbara und ich und meine Mitarbeiter die übrig gebliebenen Pappteller und Plastikgläser ein. Ich bedanke mich bei allen.
»Anna hat das großartig gemacht«, sagt Barbara, und dann hat meine sonst so gehemmte Frau einen ihrer Anfälle von Freimut, die, wie sie wohl nie begreifen wird, einfach überflüssig sind: »Die ganze Party war ihre Idee.« Barbara hat meine dienstälteste Referendarin ganz besonders ins Herz geschlossen und schon oft ihr Bedauern darüber geäußert, dass Anna ein kleines bisschen zu alt für Nat ist, der sich kürzlich von seiner langjährigen Freundin getrennt hat. Ich äußere mich lobend über Annas Backkünste, die am gesamten Berufungsgericht berühmt sind. Ermutigt durch die Anwesenheit meiner Familie, die ihre Geste harmlos wirken lassen muss, tritt Anna auf mich zu und umarmt mich, während ich ihr kameradschaftlich den Rücken tätschele.
»Herzlichen Glückwunsch, Euer Ehren. Sie sind toll!« Und schon ist sie wieder weg, während ich krampfhaft versuche, das erstaunliche Gefühl von Anna zu vergessen, wie sie sich eng an mich schmiegt, oder zumindest, meine Miene unter Kontrolle zu halten.
Ich vergewissere mich bei meiner Frau und meinem Sohn, was fürs Dinner geplant ist. Wie nicht anders zu erwarten, möchte Barbara lieber zu Hause essen statt in einem Restaurant. Sie verabschieden sich, und der Duft von Kuchen und Champagner bleibt traurig in dem jetzt wieder stillen Raum hängen. Mit meinen nunmehr sechzig Jahren bin ich mir wie immer selbst überlassen.
Ich war nie das, was man einen fröhlichen Menschen nennen würde. Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass ich weiß Gott keinen Grund zur Klage hätte. Ich liebe meinen Sohn. Die Arbeit macht mir Spaß. Ich habe gesellschaftliches Ansehen zurückgewonnen, nachdem ich in einen Abgrund aus Scham und Skandal gestürzt war. Ich führe eine langjährige Ehe, die eine Krise überstanden hat, wie man sie sich kaum vorstellen kann, und die meist einträchtig ist, wenn auch nie wirklich innig. Aber ich bin in einem deprimierenden Elternhaus aufgewachsen, mit einer verschüchterten und verstörten Mutter und einem Vater, der sich nicht schämte, ein Arschloch zu sein. Ich war kein glückliches Kind, und somit schien es durchaus in der Natur der Dinge zu liegen, dass aus mir kein zufriedener Erwachsener werden würde.
Aber selbst für einen gewohnheitsmäßig niedergeschlagenen Menschen ist es mir in Erwartung des heutigen Tages besonders schlecht ergangen. Wir marschieren in jeder Sekunde unserer Endlichkeit entgegen, aber natürlich machen uns besondere Wegmarken zu schaffen. Die Vierzig hat mich getroffen wie ein Sack Ziegelsteine: der Beginn des mittleren Alters. Und mit sechzig, da mach ich mir nichts vor, hebt sich der Vorhang für den letzten Akt. Die Anzeichen sind nicht zu übersehen: Statine, um mein Cholesterin zu senken. Flomax gegen meine vergrößerte Prostata. Und zu jedem Abendessen vier Advil, weil meine Lendenwirbelsäule aufmuckt, wenn ich den ganzen Tag gesessen habe, was in meinem Beruf nicht zu vermeiden ist.
Die Aussicht auf körperlichen Verfall und vor allen Dingen mein Wahlkampf um den Sitz am Obersten Gericht verleihen der Zukunft einen besonderen Schrecken. Wenn ich in zwanzig Monaten den Eid ablege, werde ich es so weit gebracht haben, wie mich mein Ehrgeiz antreiben kann. Und ich weiß, das unaufhörliche Flüstern meines Herzens wird nicht aufhören. Es ist nicht genug, wird die Stimme sagen. Noch nicht. All das geschafft, all das erreicht. Und doch, in den Tiefen meines Herzens wird mir noch immer dieses unnennbare Quäntchen Glück fehlen, das mir seit sechzig Jahren versagt bleibt.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 2
Tommy Molto, 30. September 2008
Tomassino Molto III., kommissarischer Oberstaatsanwalt von Kindle County, saß hinter seinem Schreibtisch, wuchtig und schwer wie ein Cadillac aus den 60er Jahren, und überlegte, inwieweit er ein anderer geworden war, als sein Erster Staatsanwalt Jim Brand einmal kurz an den Türrahmen klopfte.
»Tiefschürfende Gedanken?«, fragte Brand.
Tommy lächelte, gab sich trotz seines chronisch unverblümten Charakters alle Mühe, ausweichend zu sein. Die Frage, wie sehr er sich in den letzten zwei Jahren verändert hatte, tauchte ein- oder zweimal pro Stunde in Tommys Gedanken auf wie ein Tropfen aus einer undichten Regenrinne. Die Leute sagten, er wäre kaum
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