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Nuhr, Dieter

Nuhr, Dieter

Titel: Nuhr, Dieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuhr auf Sendung
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Dieter Nuhr
     
    NUHR AUF SENDUNG
    Ein Radiotagebuch
     
     
    Die Bahn und die
Pünktlichkeit 17 Januar 2000
    Letzte Woche bin ich mit der Deutschen Bahn gefahren, und
der Zug war - pünktlich. Unglaublich! Ich hatte eigentlich diesbezüglich
Sondersendungen im Fernsehen erwartet, aber auf dem Rückweg war alles wieder
wie gewohnt, und jetzt stehe ich hier immer noch auf dem Bahnhof. Der Zug in
Gießen hatte Verspätung, weshalb ich den Anschlusszug in Dillenburg verpasst
habe, von da aus mit dem Bahnbus oben herum weitergefahren bin, um dann in
Kronberg festzustellen, dass der Kurswagen nach Hanau nur an geraden Tagen
fährt sowie in Monaten mit R und Wochentagen mit S, F und G.
    Und heute haben wir ja D, also Donnerstag, und das heißt
in Bahndeutsch: 4. Als alter
Bahnkunde weiß ich natürlich, dass an diesem vierten Wochentag der Intercity
»Regensburger Domspatzen« immer zwischen Koblenz und Mainz seinen technischen
Defekt hat. Deshalb bin ich in den Interregio eingestiegen, der eigentlich
Montag fahren sollte - und eigentlich von Freiburg nach Freudenstadt, der aber
zufällig gerade hier vorbeikam. Ich also rein: total heiße Stimmung, denn die
Heizung war nicht abzustellen. Außerdem gab es in der zweiten Klasse ein
kleines Lagerfeuer, an dem ein paar Bundeswehrsoldaten alte Wehrmachtslieder
vortrugen. Und da hab ich dann auch erfahren, dass der Zug heute ausnahmsweise
über Stalingrad fahren sollte ...
    Ich also wieder raus ... das war in Mainz. Da wird gerade
der Bahnhof umgebaut; also muss man, um von Bahnsteig 2 auf Bahnsteig 4 zu
wechseln, mit der Taxe über Oppenheim, Nierstein und Bad Kreuznach auf die
Bahnhofssüdseite fahren. Da bin ich dann wegen einer falschen Bahnsteiganzeige
aus Versehen in den Zug nach Passau gestiegen, musste aber gar nicht viel nachzahlen,
weil es ja indessen spät geworden war und ich ein Guten-Abend-Ticket nehmen
konnte ...
    Ich habe dann in Würzburg in der Bahnhofsmission übernachtet,
zwischen einem älteren Herrn mit starken Hautekzemen und einem jüngeren
Drogenabhängigen, der sich in die Hose gemacht hatte - aber was soll's? Ich
wollte ja eh schon morgens um fünf den ersten Zug nehmen, der allerdings ausfiel,
wegen einer außerordentlichen Betriebsversammlung der Gleiskrümmer und
Weichenputzer. Und jetzt steh ich hier. Ich denke, dass ich dann kurz vor
Ostern eintreffen werde. Und bis dahin weiß ich dann auch, was eigentlich aus
der Serviceinitiative der Deutschen Bahn geworden ist.
     
    Zu s pät 23. Januar 2000
    Gilt eigentlich die Heisenberg'sche Unschärferelation,
dass man niemals Ort und Zeit eines Teilchens gleichzeitig genau bestimmen
kann, auch für meine Freundin? Vielleicht muss sie einfach immer zu spät kommen
- aus teilchenphysikalischen Gründen.
    Oder auch wegen Einstein. Angenommen, wir treffen uns, und
sie kommt mit der Straßenbahn. Dann krümmt die Straßenbahn durch ihre
Geschwindigkeit Raum und Zeit, und meine Freundin kommt gar nicht zu spät, ich
bin nur schneller gealtert. Das Gefühl habe ich übrigens bei meiner Freundin
häufig - dass ich wegen ihr schneller altere.
    Ständig rege ich mich auf, weil sie wieder zu spät ist -
obwohl ich weiß, dass das gar keinen Sinn hat! So sind nun einmal die
Naturgesetze, dass eben meine Materie aufgrund der größeren Masse eher da ist.
Deshalb ist das ja so, dass der Mann meist zuerst kommt.
    Aber im Grunde liegt das alles an der Zellteilung. Es gibt
jetzt seit 3,7 Milliarden Jahren Leben auf unserem Planeten. Davon gab es 3
Milliarden Jahre lang nur Zellteilung - und plötzlich: die ersten Tiere,
Männchen, Weibchen, die erste Verabredung: Sie zu spät. Natürlich. Sonst wäre
vielleicht die ganze Evolution anders verlaufen. Seitdem laufen die Kerle den
Frauen hinterher.
    Dieser Zusammenhang von Masse und Dasein ist ja schon seit
dem 17. Jahrhundert bekannt und ist zum Beispiel in Peter Paul Rubens' Gemälde
»Das Pelzchen« im kunsthistorischen Museum in Wien gut zu erkennen. Da sieht
man eine Frau mit starker Orangenhaut im offenen Nerz, wabernd steht sie da und
grinst einen an, als wenn sie sagen wollte: »Entschuldigung. Ich konnte nicht
pünktlich kommen, ich musste dringend noch drei Kisten Pralinen fressen.« Und
wer war das Modell? Rubens' eigene Frau! Und die hat ihn auch noch 34 Jahre
überlebt! Ist das nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit? Dass nämlich
Frauen auch noch länger leben, weil sie für alles länger brauchen? Selbst für
den Tod?
    Wobei es aber auch Ausnahmen gibt.

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