Der Lilienring
Rosemarie begleitete sie und lief neben ihr die Treppe hinauf. Sie traten beide in Marie-Annas Zimmer, und als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, flüsterte Marie-Anna: »Schau dir das an, Rosemarie. Graciella hat sie hier zwischen den Bürsten gefunden!«
»Die Fibel. Hast du sie etwa genommen?«
»Nein, wahrhaftig nicht.«
»Dann hat sie jemand dort hingelegt. Onkel Valerian?«
»Wenn er gewollt hätte, dass ich sie bekomme, hätte er sie mir auf andere Weise gegeben. Nein, ich denke, da wollte mich jemand des Diebstahls bezichtigen. Unsere schnüffelnde Berlinde hätte sie noch heute Abend unter irgendeinem Vorwand dort gefunden. Ich habe sie neulich schon mal aus meinem Zimmer huschen gesehen.«
»Sie ist eine miese Kröte. Ob sie es war?«
»Zutrauen würde ich es ihr. Im Verein mit Madame eine denkbare Möglichkeit.«
»Es ist verflixt gewagt, was mein Onkel da heute vorhat. Madame muss ja blind auf beiden Augen sein, wenn sie nicht merkt, was passiert ist.«
»Möglicherweise will er es.«
»Damit sie ›Ehebruch‹ schreit und auf Scheidung drängt?«
»Ich könnte mir vorstellen, es wäre ihm am liebsten. Bevor er die Trennung beantragt, wäre es besser, sie würde von sich aus gehen. Es ist ein wenig schwierig, denke ich mir, nach einer so lange bestehenden, scheinbar harmonischen Ehe einen Scheidungsgrund zu finden.«
»Wirst du es ihm erzählen?«
»Gleich, wenn wir alleine sind. Und nun hilf mir, die Haare zu ordnen. Ich habe das Gefühl, diese Frisur sieht schon wieder aus wie ein verlassenes Vogelnest.«
Valerian hörte sich Marie-Annas Vermutungen in der Kutsche an, die sie zum Konzert brachte. Er stimmte ihr zu.
»Ja, es wäre mir sehr recht, wenn sie von sich aus gehen würde. Die Strafe, die auf Ehebruch steht, ist nicht so schlimm. Ich werde mit zweitausend Franc davonkommen, wenn es wirklich hart auf hart geht. Ich habe schon mit den Advokaten gesprochen.«
»Und ich?«
»Du bist bei meinen Eltern auf dem Gut ein lieber Gast, was sonst? Hast du Angst vor den Klatschmäulern?«
»Eigentlich nicht. Sie werden bald genug andere Skandälchen finden, über die sie sich den Mund zerreißen können.«
»Mutiges Mädchen. Komm, wir wollen Beethovens Kompositionen genießen und für eine Weile diese Ärgernisse vergessen.«
So geschah es dann auch, und in der gehobenen Stimmung, in die sie die Musik versetzt hatte, fuhren sie nach Hause in die Sternengasse.
Der Schock war umso größer, als sie ausstiegen. Die Haustüre stand offen, im Eingangsbereich empfingen sie zwei Gendarmen. Mathilda stand neben ihnen, sie hatte völlig aufgelöst die Hände in der Schürze verwunden, das Zimmermädchen und die Küchenhilfe drückten sich heulend in eine Ecke.
Graciella lehnte bleich und zitternd an der Treppe. Ihr Vater ging direkt auf sie zu.
»Was ist geschehen, Kind?«
»Mama!«
Valerian Raabe warf einen Blick die Treppe empor. Oben hatten zwei weitere Gendarmen Posten bezogen. Berlindes Stimme klang zu ihnen hinunter.
»Valerian, gut dass Sie kommen. Ihre Nichte ist eine gemeine Diebin, eine Mörderin. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«, keifte sie.
Er nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Marie-Anna eilte ihm nach.
Im Flur der Bel-Etage, am Fuße der Treppe nach oben, lag Ursula Raabe. Rosemarie, mit fassungslosem Blick, stand neben der Gestürzten.
»Rosemarie, was wirft man dir vor?«
Berlinde gab dem Mädchen keine Chance zu antworten.
»Sie ist in Madames Zimmer eingebrochen und hat sie beraubt. Ich habe gesehen, wie sie die Hände voller Schmuck hatte. Und dann hat sie Madame die Treppe hinuntergestoßen!«
»Berlinde, dich habe ich nicht gefragt.«
»Onkel Valerian, so war es nicht.«
Rosemarie schluchzte hysterisch auf, und Marie-Anna legte den Arm um sie.
»Herr Kommerzialrat, wir müssen Fräulein Klein verhaften. Dem Augenschein nach sind die Anschuldigungen gerechtfertigt«, behauptete einer der Gendarmen.
Marie-Anna flüsterte ihrer Freundin ins Ohr: »Faucon wird dir helfen.«
»O Gott, der Sous-Préfet. Nein, ich kann nicht...«
»Rosemarie, ruhig. Ich kann mir schon denken, was passiert ist!« Laut erklärte sie: »Ich glaube nicht, dass Rosemarie etwas damit zu tun hat, Valerian.«
Der Gendarm fuhr sie scharf an: »Fräulein, das zu beurteilen werden Sie schon der Justiz überlassen müssen. Es spricht alles dafür, dass sie die Täterin ist.«
»Idiot! Imbécile! Sie ist keine Täterin.«
»Marie-Anna, im Augenblick können wir
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