Der Lilienring
Rosemarie.«
Marie-Anna ging ab diesem Zeitpunkt der Zuwendung von Schokolade und Zuckerwerk verlustig, dafür war das tägliche Teetablett vom nächsten Tag an mit delikaten Schnittchen und Marmeladenbrötchen angereichert.
Das Osterfest rückte näher, und der Garten hinter dem Haus erwachte aus seinem braunen Winterschlaf. In den Rabatten streckten Tulpen und Narzissen ihre grünen Lanzen aus dem Erdreich, die Forsythien wagten, ihre gelben Blüten zu öffnen, und an der sonnigen Hauswand bekamen die Spalierobstzweige dicke Knospen.
Am Ostersonntag hatte die Familie Gäste eingeladen. Das Mittagsmahl war eines der besten, die Marie-Anna bislang genossen hatte. Cremige Suppen, Lammbraten, Geflügel, feine Kartoffelnestchen, köstliche Saucen, in Gewächshäusern gezogenes Frühgemüse, Törtchen,
Fruchtgelees und Sahnepuddings wurden serviert, roter und weißer Wein füllten die Gläser. Aromatischer Bohnenkaffee anstelle des üblichen Moccafaux, des Ersatzkaffees aus gerösteter Gerste, gemeinhin auch Muckefuck genannt, wurde nach dem Dessert gereicht. Anschließend schlenderte die Gesellschaft durch den Garten, Grüppchen bildeten sich, lösten sich wieder auf, fanden sich zu neuen zusammen. Die Kinder suchten unter Johlen und Scherzen nach versteckten, bunten Eiern aus Zuckerwerk und tollten danach mit Reifen und Bällen über die Wiese.
Marie-Anna hatte eines ihrer modischen Kleider angezogen, ein fließendes Gebilde aus hellgrünem Seidencrêpe und mit feiner Stickerei, das aus der Zeit stammte, da Jules sie mit reichen Geschenken verwöhnt hatte. Auch das einzige Schmuckstück, das sie besaß, hatte sie angelegt – einen sehr fein gearbeiteten goldenen Ring, besetzt mit winzigen Brillanten, der die Form einer Lilie aufwies. Jules hatte ihn ihr eines Abends gegeben, als er von einem Kartenspiel zurückgekehrt war. Leicht amüsiert hatte er ihr erklärt: »Der Chevalier D’Angoulmême hatte kein Glück im Spiel. Geld hatte er auch keines mehr. Aber seine Ehre hat er gerettet. Was soll ich mit dem Spielzeug? Nimm du ihn.«
Dass der besagte Chevalier ein Mitglied der ältesten französischen Adelshäuser war, spielte in diesen Tagen keine große Rolle. Marie-Anna hatte sich zwar insgeheim gefragt, welches Schicksal diesen Mann wohl ereilt hatte, der aus der Familienlinie stammte, der auch ihre Mutter angehört hatte. Aber dann hatte sie sich darüber nicht weiter den Kopf zerbrochen.
»Nun, Marie-Anna, wie finden Sie sich in Ihrer neuen Stellung zurecht?«
»Gut, Monsieur Faucon. Man akzeptiert mich als die, die ich vorgebe zu sein.«
Sie waren ein wenig von den anderen fortgeschlendert, und Marie-Anna vermutete, dass Faucon von ihr einen Bericht erwartete.
»Das ist ausgezeichnet. Wie beurteilen Sie den Haushalt?«
»Gediegene Bürgerlichkeit, von starker Hand geführt, mit einigen ungewöhnlichen Regelungen.«
»Ungewöhnlich in welcher Hinsicht?«
»Die Prinzipien des Hausherren dürften nicht ganz der Norm entsprechen. Doch sie beziehen sich ausschließlich auf die Haushaltsführung und die Disziplin der ihm angehörenden Personen.«
»Sind sie unbequem zu ertragen?«
»Nein, das kann ich nicht behaupten. Im Grunde sind sie vernünftig. Nun ja, aber das Reglement bezüglich Reinlichkeit, Ernährung und Bildung ist sicher nicht das, was Sie im Besonderen interessiert.«
»Solange Sie nicht in der Form dagegen verstoßen, dass Sie unangenehm auffallen, sicher nicht. Womit beschäftigen Sie sich?«
»Neben dem Unterricht zusammen mit Rosemarie, des Hausherren Nichte, mit der Sammlung, die er anlegt. Wir katalogisieren sie.«
Faucon nickte befriedigt.
»Das hatte ich gehofft. Sind Ihnen Unregelmäßigkeiten aufgefallen, Marie-Anna?«
»Bislang noch nicht. Ich weiß eigentlich auch nicht so genau, wonach ich suchen soll.«
»Da, Mademoiselle, werde ich Ihnen mit dieser Liste gewiss weiterhelfen. Nehmen Sie sie an sich. Sie beinhaltet all die Stücke, die wir gefunden haben. Entweder bei Schmugglern oder Druckern oder anderen verdächtigen Subjekten. Prüfen Sie, ob irgendetwas aus diesem Haus stammt.«
Sie steckte das gefaltete Papier in ihre Handtasche und
meinte: »Ich komme nicht ohne weiteres an die Sammlung heran. Professor Klein ist ihr Kustos.«
»Becircen Sie ihn.«
»Ich habe nichts gegen staubige Arbeiten, aber diesen verknöcherten Gelehrten der Altertumskunde becircen? Eher gelingt es mir bei diesem steinernen Satyr!«
Sie wies auf die Marmorfigur hin, die zwischen
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