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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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konnte sie keine mehr führen.
    »Was ist los mit Ihnen? Sind Sie auch krank?«
    »Nein, nur ein wenig erschöpft. Entschuldigen Sie mich bitte.«
    Marie-Anna stand auf, er erhob sich ebenfalls, und als sie zur Tür gehen wollte, versagten ihr plötzlich die Beine. Er war mit einem Schritt bei ihr und fing sie auf. An seine Brust gelehnt flüsterte sie mühsam: »Pardon«, und versuchte, wieder Halt auf den eigenen Füßen zu finden. Doch er ließ es nicht zu, und mit einem Ruck hatte er sie auf die Arme genommen und trug sie aus dem Zimmer.
    »Sie müssen ruhen, Marie-Anna.«
    Sie war zu müde, um zu protestieren. Wie ein Kind wurde sie die Treppe hinaufgetragen. Sie ließ es sich auch gefallen, auf ihr Bett gelegt zu werden, und sie wehrte sich nicht, als er ihr Kleid löste und die Schuhe von ihren Füßen streifte.
    »Morgen früh ist eine Pflegerin im Haus«, versprach er, als er die Decke über sie zog. »Schlafen Sie!« Dann strich er ihr sanft mit den Fingerspitzen über die Stirn, verweilte an ihrer Schläfe und glitt dann über ihre Wangen. »Schlafen Sie sich aus, mein Kind.«

    Sie öffnete noch einmal die Augen, sah ihn an und senkte dann die Lider. Mit einem leisen Seufzer drehte sie das Gesicht zur Seite und schlief sofort ein.

14. Kapitel
    Der Herbstball
    »Hilf mir suchen, Marie-Anna. Wir wollen doch heute rechtzeitig fertig werden.«
    Rosemarie bat Marie-Anna mit leichter Verzweiflung in der Stimme, ihr in den staubigen Kisten und Kästen, die auf dem Boden im Arbeitszimmer standen, einen Ring zu finden, der in der Inventarliste aufgeführt war.
    »Was soll ich denn finden?«
    »Einen antiken Gemmenring. Ein Siegelring mit einem roten Stein, in den ein sich aufbäumendes Pferdchen geschnitten ist.«
    »Könnte es auch eine Stecknadel im Heuhaufen sein? In dem Durcheinander werden wir ihn heute nicht mehr finden. Wir suchen morgen früh weiter, so lange kann das noch warten.«
    »Meinst du?«
    »Rosemarie, es ist bereits halb fünf, wir sollten hier aufhören. Das Mädchen hat den Badeofen schon angeheizt. Ich gehe jetzt in die Wanne.«
    Rosemarie, nach der Krankheit noch blass und ein wenig spitz im Gesicht, setzte sich an den Tisch und begann, ihre Arbeitsutensilien zusammenzuräumen. Sie hatte die Masern zum Glück ebenfalls ohne Folgen überstanden, hatte aber länger als Graciella gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Jetzt, im September, war es das erste Mal, dass sie sich wieder in Gesellschaft begab.
    Die »Société«, eine Vereinigung angesehener Kölner Bürger, die sich um Kultur und gesellschaftliche Ereignisse
kümmerte, hatte einen Herbstball im Gürzenich angekündigt. Natürlich ging »tout le monde« zu diesem Fest.
    Marie-Anna, in ein wollenes Negligé gewickelt, eilte eben vom Badezimmer aus in ihr Zimmer, als Graciella ihre Nase aus dem ihren steckte.
    »Was ziehst du an, Anna?«
    »Komm rein und hilf mir, wenn du willst.«
    »Darf ich? Danke. Nächstes Jahr gehe ich auch auf den Ball, das kannst du glauben!«
    »Nächstes Jahr bist du vierzehn, ich fürchte, das wird noch nichts.«
    »Abwarten. Ich wachse ziemlich schnell!«
    Marie-Anna lachte und holte Wäsche, Kleid und Schuhe aus dem Schrank. Unter den leichten, fließenden Kleidern, die die Mode vorschrieb, trug man wenig. Eine dünne, knielange Caleçon aus weißem, zart besticktem Leinen, ein kurzes Bustier und ein »Brassière«, ein hauchdünnes Hemdchen. Die darüber getragenen Chemisenkleider waren üblicherweise weiß, elfenbeinfarben oder blass pastellig. Marie-Anna hatte sich aus einem zarten Seidenstoff ein schlichtes Abendkleid genäht, das hinten in einer kurzen Schleppe auslief. Viel Zeit hatte sie auf die Bestickung mit blauen und goldenen Fäden verwendet. Ein transparenter Shawl in dunklerem Blau würde gegebenenfalls das sehr tiefe Dekolleté verhüllen und ansonsten dekorativ um die Ellenbogen geschlungen werden. Dieser Shawl, und auch der rote von Rosemarie, waren erstaunlicherweise Geschenke von Valerian Raabe. Ein Dank für Graciellas Pflege, hatte er erklärt.
    »Ich helfe dir beim Frisieren, gib mir die Bürste!«, bot Graciella an, und Marie-Anna ließ sich das gerne gefallen. Ihre Haare reichten bis über die Hüfte, und sie alleine zu einer mehr als praktischen Frisur aufzustecken
war harte Arbeit. Da es außer für Madame keine Zofe im Haus gab, waren die drei jungen Frauen gewohnt, sich gegenseitig beim Frisieren zu helfen. Graciella war ungewöhnlich geschickt darin, Rosemarie

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