Der Lilienring
mal den Mund auf!«, bat Marie-Anna. Nach einem kritischen Blick auf die Schleimhaut nickte sie bestätigend. »Ab ins Bett. Die Masern wollen ihr Opfer haben.«
»Bist du sicher?«
»Die Flecken im Mund sind ziemlich eindeutig.«
»Oh, Mist.«
»Das kannst du wohl sagen. Und, Liebes, du wirst dich ein paar Tage lang ziemlich scheußlich fühlen.«
»Hast du die Masern mal gehabt?«
»Ja, als ich neun war. Jetzt sei so gut und geh in dein
Zimmer. Ich bespreche mich mit Mathilda, und dann werden wir sehen, was wir tun können.«
Zum Glück war die Haushälterin eine verständige Frau, die wusste, was zu unternehmen war. Sie begann sofort, einen Fiebertrank zu brauen, überprüfte die Hausapotheke und gab Marie-Anna den Auftrag, die fehlenden Mittel bei ihrem Gang in die Stadt zu ergänzen.
Graciella, die sich am Morgen noch unwillig in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, war gegen Mittag dankbar dafür, dass Marie-Anna die Vorhänge vor das Fenster zog und das grelle Sonnenlicht ausschloss.
»Mir tun die Augen weh und der Hals auch. Ich bin so schlapp, Marie-Anna.«
»Du bekommst Fieber, Ciella. Ich habe dir kalten Tee gebracht und ein Mittelchen, das die Temperatur senkt. Komm, wir stellen diesen Tisch hier an dein Bett, dann kannst du alles bequem erreichen.«
»Danke.«
Sie trank ein wenig, sank dann aber teilnahmslos in die Kissen zurück. Marie-Anna suchte Rosemarie auf, die im Arbeitszimmer weiter fleißig an ihren Zeichnungen arbeitete.
»Das wird anstrengend, fürchte ich. Hast du die Masern als Kind gehabt?«
»Weiß ich nicht genau, Mumps ja und Röteln und Kuhpocken, daran kann ich mich erinnern. Ich glaube, auch einmal Scharlach. Oder waren das die Masern?«
»Uh, wenn du sie noch nicht hattest, dann steht uns ja einiges bevor. Am besten, du gehst nicht in Graciellas Zimmer. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
»Aber wer soll sie denn dann pflegen?«
»Mathilda und ich, denke ich mal. Die Sammlung wird eine Weile auf mich verzichten müssen.«
»Schon gut. Ich komme auch alleine weiter. Habe ich ja früher auch geschafft.«
»Dein Vater könnte dir helfen. Er hat doch zurzeit wenig zu tun.«
Rosemaries Blick sprach Bände.
»Ich verstehe, das war kein besonders guter Vorschlag.«
Graciellas Fieber stieg wie erwartet weiter, und Marie-Anna hatte eine lebhafte Nacht vor sich. Das Mädchen war unruhig, wälzte sich abwechselnd heiß und von Schüttelfrost gebeutelt in den Kissen, jammerte über Kopf-, Ohren- und Gliederschmerzen und fiel in den Morgenstunden in einen fiebrigen Schlaf.
Mathilda schickte Marie-Anna zu Bett, aber gegen Mittag stand sie wieder an dem Bett des Mädchens und überredete sie, einige Löffel gesüßten Breis zu essen und sich den Mund dann mit einem Gurgelwasser auszuspülen. Schließlich gab sie ein paar Tropfen eines Beruhigungsmittels auf einen Teelöffel und bat sie, die auch noch einzunehmen.
»Das schmeckt so scheußlich, das will ich nicht«, klagte sie.
»Ciella, das solltest du aber. Es ist gut, wenn du viel schläfst. Komm, sei brav, Chérie.«
Es war keine leichte Arbeit, das Mädchen zu überreden, diverse unangenehm schmeckende Mittel zu nehmen, sie mit kalten Tüchern abzureiben, ihr bei den körperlichen Bedürfnissen zu helfen und ihr Bett in einem frischen, behaglichen Zustand zu halten.
Zwei Tage später brach der Ausschlag aus. Er bedeckte ihren ganzen Körper mit roten Flecken.
»Nicht kratzen, Ciella. Komm, ich habe kühlende Salbe für dich. Aber wenn du die Stellen aufkratzt, bleiben später Narben zurück.«
Zu allem Überfluss hing eine glasige Sommerhitze über der Stadt, und die unbewegte, stickige Luft machte den Ausschlag und das Fieber für die Patientin zu einer
Qual. Mathilda und Marie-Anna badeten sie in kühlem Wasser, legten ihr feuchte Kompressen auf die Stirn, salbten und betupften den schuppig werdenden Ausschlag. Mit viel Überredung versuchten sie, sie mit Milchbrei, Pürees und Puddings zu füttern oder ihr Tee und Fruchtsäfte zu trinken zu geben. Schlimmer als die Tage waren die Nächte, denn das Fieber ließ noch immer nicht nach.
»Es müsste allmählich abklingen«, bemerkte Mathilda besorgt. »Es könnte sonst auf andere Organe übergreifen.«
»Ich weiß. Sollen wir einen Arzt holen?«
»Was kann der schon mehr machen? Sie muss es durchstehen. Sie pflegen sie gut, Mamsell. Das muss man Ihnen lassen.«
»Danke, Mathilda, aber Sie sind eine genauso große Hilfe.«
»Die Kleine ist ja auch ein liebes
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