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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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plötzlich dachte er, es würde ihn nicht wundern, wenn sie in Trance fiele. Oder war er selbst in Trance? Er hielt eine lange Rede. »Du möchtest nach deiner Idee leben« hatte er begonnen »und möchtest wissen, wie man das kann. Aber eine Idee, das ist das Paradoxeste von der Welt. Das Fleisch verbindet sich mit Ideen wie ein Fetisch. Es wird zauberhaft, wenn eine Idee dabei ist. Eine gemeine Ohrfeige kann durch die Idee von Ehre, Strafe und dergleichen tödlich werden. Und doch können sich Ideen niemals in dem Zustand, wo sie am stärksten sind, erhalten; sie gleichen jenen Stoffen, die sich sofort an der Luft in eine dauerhaftere andere, aber verdorbene Form umsetzen. Das hast du oft mitgemacht. Denn eine Idee: das bist du; in einem bestimmten Zustand. Irgendetwas haucht dich an; wie wenn in das Rauschen von Saiten plötzlich ein Ton kommt; es steht etwas vor dir wie eine Luftspiegelung; aus dem Gewirr deiner Seele hat sich ein unendlicher Zug geformt, und alle Schönheiten der Welt scheinen an seinem Wege zu stehn. Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen anderen Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose Festigkeit angenommen.«
    Clarisse erwiderte: »Walter ist eifersüchtig auf dich. Nicht etwa meinetwegen. Sondern weil du so aussiehst, als ob du das tun könntest, was er gern möchte. Verstehst du? Es ist etwas an dir, das ihn sich wegnimmt. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.«
    Sie sah ihn prüfend an.
    Diese beiden Reden flochten sich ineinander.
    Walter war immer das zärtliche Lieblingskind des Lebens gewesen, er saß ihm auf dem Schoß. Mochte ihm geschehen, was immer, er verwandelte es in zärtliche Lebendigkeit. Walter war immer der gewesen, der mehr erlebte. »Aber Mehrerleben ist eines der frühesten und feinsten Zeichen, an denen man den Durchschnittsmenschen erkennt« dachte Ulrich; »Zusammenhänge nehmen dem Erlebnis die persönliche Giftigkeit oder Süße!« So ungefähr war es. Und diese Versicherung selbst, daß es so wäre, war ein Zusammenhang, und man bekam keinen Kuß und keinen Abschied dafür. Und trotzdem war Walter auf ihn eifersüchtig? Es freute ihn.
    »Ich habe zu ihm gesagt, daß er dich töten soll« berichtete Clarisse.
    »Was?«
    »Umbringen, habe ich gesagt. Wenn an dir nicht so viel daran sein sollte, wie du dir einbildest, oder wenn er besser wäre als du und nur dadurch zur Ruhe kommen könnte, wäre das doch ganz richtig gedacht? Und außerdem kannst du dich ja wehren.«
    »Das gibst du nicht schlecht…!« antwortete Ulrich unsicher.
    »Nun, wir haben ja nur so gesprochen. Was meinst du übrigens!? Walter sagt, man darf so etwas nicht einmal denken.«
    »Doch; denken schon« erwiderte er zögernd und sah sich Clarisse genau an. Sie hatte einen eigentümlichen Reiz. Kann man sagen, als stünde sie neben sich? Sie war abwesend und anwesend, beides dicht nebeneinander.
    »Ach was, denken!« unterbrach sie ihn. Sie sprach gegen die Wand, vor der er saß, als wäre ihr Auge auf einen Punkt dazwischen gerichtet. »Du bist ebenso passiv wie Walter!« Auch dieses Wort lag zwischen zwei Entfernungen; es nahm Distanz wie eine Beleidigung und versöhnte doch durch eine vertrauliche Nähe, die es voraussetzte. »Ich sage dagegen: Wenn man etwas denken kann, dann soll man es auch tun können« wiederholte sie trocken.
    Dann verließ sie ihren Platz, ging zum Fenster und verschränkte die Hände am Rücken. Ulrich stand rasch auf, ging ihr nach und legte den Arm um ihre Schulter. »Kleine Clarisse, du bist soeben recht sonderbar gewesen. Aber ich muß ein gutes Wort für mich einlegen; ich gehe dich doch eigentlich nichts an, möchte ich meinen« sagte er.
    Clarisse starrte zum Fenster hinaus. Aber jetzt scharf; sie faßte irgendetwas draußen ins Auge, um sich daran einen Halt zu sichern. Sie hatte den Eindruck, ihre Gedanken wären außerhalb gewesen und nun wieder zurückgekehrt. Diese Empfindung, wobei sie wie ein Raum war, in dem man noch fühlt, daß soeben die Türe geschlossen worden, war ihr nicht neu. Sie hatte zuweilen Tage und Wochen, da alles, was sie umgab, lichter und leichter war als sonst, so als müßte es nicht viel Mühe machen, hineinzuschlüpfen und außer sich in der Welt spazieren zu gehn; ebenso wie danach wieder schwere Zeiten kamen,

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