Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte.
Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und findet in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Genußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die Demut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daß Laster zu Tugenden und Tugenden zu Lastern werden können, und hält es im Grunde bloß für eine Ungeschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus einem Verbrecher einen nützlichen Menschen zu machen. Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tags teil hat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsre Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöpfung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert.
So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen, und fast könnte man glauben, daß von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrigbleibe. Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen. Ulrich fühlte sich an diesen fast stündlich wachsenden Leib von Tatsachen und Entdeckungen erinnert, aus dem der Geist heute herausblicken muß, wenn er irgendeine Frage genau betrachten will. Dieser Körper wächst dem Inneren davon. Unzählige Auffassungen, Meinungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne durchziehen ihn zwar wie Tausende kleiner empfindlicher Nervenstränge, aber der Strahlpunkt, wo sie sich vereinen, fehlt. Der Mensch fühlt die Gefahr nahe, wo er das Schicksal jener Riesentierrassen der Vorzeit wiederholen wird, die an ihrer Größe zugrundegegangen sind; aber er kann nicht ablassen. – Dadurch wurde nun Ulrich wieder an jene recht fragwürdige Vorstellung erinnert, die er lange Zeit geglaubt und selbst heute noch nicht ganz in sich ausgemerzt hatte, daß die Welt am besten von einem Senat der Wissenden und Vorgeschrittenen gelenkt würde. Es ist ja sehr natürlich, zu denken, daß der Mensch, der sich von fachlich gebildeten Ärzten behandeln läßt, wenn er krank ist, und nicht von Schafhirten, keinen Grund hat, wenn er gesund ist, sich von hirtenähnlichen Schwätzern behandeln zu lassen, wie er es in seinen öffentlichen Angelegenheiten tut, und junge Menschen, denen an den wesenhaften Inhalten des Lebens gelegen ist, halten darum anfangs alles auf der Welt, was weder wahr, noch gut, noch schön ist, also zum Beispiel auch eine Finanzbehörde oder eben eine Parlamentsdebatte, für nebensächlich; wenigstens waren sie damals so, denn heute sollen sie ja dank der politischen und wirtschaftlichen Erziehung anders sein. Aber auch damals lernte man, wenn man älter wurde und bei längerer Bekanntschaft mit der Räucherkammer des Geistes, in der die Welt ihren geschäftlichen Speck selcht, sich der Wirklichkeit anzupassen, und der endgültige Zustand eines geistig angebildeten Menschen war ungefähr der, daß er sich auf sein »Fach« beschränkte und für den Rest seines Lebens die Überzeugung mitnahm, das Ganze sollte ja vielleicht anders sein, aber es habe gar keinen Zweck, darüber nachzudenken. So ungefähr sieht das innere Gleichgewicht der Menschen aus, die geistig etwas leisten. Und mit einemmal stellte sich Ulrich das Ganze komischer Weise in der Frage dar, ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe, bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe?
Er wollte darüber
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