Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
sozialen Experimentalversuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt, denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen. Es gibt wohl noch Leute, die ganz persönlich leben; sie sagen »Wir waren gestern bei dem und dem« oder »Wir machen heute das und das«, und ohne daß es sonst noch Inhalt und Bedeutung zu haben brauchte, freuen sie sich darüber. Sie lieben alles, was mit ihren Fingern in Berührung tritt, und sind so rein Privatperson, wie das nur möglich ist; die Welt wird Privatwelt, sobald sie mit ihnen zu tun bekommt, und leuchtet wie ein Regenbogen. Vielleicht sind sie sehr glücklich; aber diese Art Leute erscheint den anderen gewöhnlich schon absurd, obgleich es noch keineswegs sicher ist, warum. – Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.
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Ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig. Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär
ES IST NICHT SCHWER, diesen zweiunddreißigjährigen Mann Ulrich in seinen Grundzügen zu beschreiben, auch wenn er von sich selbst nur weiß, daß er es gleich nah und weit zu allen Eigenschaften hätte und daß sie ihm alle, ob sie nun die seinen geworden sind oder nicht, in einer sonderbaren Weise gleichgültig sind. Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, verbindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht empfindsam für andere Menschen und hat sich selten in sie hineinversetzt, außer um sie für seine Zwecke kennen zu lernen. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das geschieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt, eine biegsame Dialektik des Gefühls, die ihn leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzulehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten hervorgeht. Trotz dieses Willens überläßt er aber seine moralische Führung, mit gewissen Ausnahmen, die er sich gestattet, einfach jenem ritterlichen Anstand, der in der bürgerlichen Gesellschaft so ziemlich alle Männer leitet, solange sie in geordneten Verhältnissen leben, und führt auf diese Weise mit dem Hochmut, der Rücksichtslosigkeit und Nachlässigkeit eines Menschen, der zu seiner Tat berufen ist, das Leben eines anderen Menschen, der von seinen Neigungen und Fähigkeiten einen mehr oder weniger gewöhnlichen, nützlichen und sozialen Gebrauch macht. Er war es gewohnt, sich aus natürlichem Trieb und ohne Eitelkeit für das Werkzeug zu einem nicht unbedeutenden Zweck zu halten, den er schon noch rechtzeitig zu erfahren gedachte, und selbst jetzt, in diesem begonnenen Jahr der suchenden Unruhe, nachdem er das steuerlose Treiben seines Lebens eingesehen hatte, stellte sich bald wieder das Gefühl ein, auf dem Wege zu sein, und er gab sich mit seinem Plan gar keine besondere Mühe. Es ist nicht ganz leicht, in einer solchen Natur die sie treibende Leidenschaft zu erkennen; Anlage und Umstände haben sie vieldeutig geformt, ihr Schicksal ist noch durch keinen wirklich harten Gegendruck entblößt worden, die Hauptsache ist aber, daß ihr zur Entscheidung noch etwas fehlt, das ihr unbekannt ist. Ulrich ist ein Mensch, der von irgend etwas gezwungen wird, gegen sich selbst zu leben, obgleich er sich scheinbar ohne Zwang gehen läßt.
Der
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