Liebe um Mitternacht
Prolog
Die letzten Jahre der Regierungszeit von Königin Victoria …
Erstaunliche Darbietung übersinnlicher Kräfte
von
Gilbert Otford Reporter
The Flying Intelligencer
Mrs. Fordyce, die bekannte Autorin, hat vor einiger Zeit vor einem kleinen, privaten Publikum, das nur aus Damen bestand, eine aufregende Demonstration ihrer übersinnlichen Fähigkeiten gegeben.
Diejenigen, die dieser Demonstration beigewohnt haben, beschrieben eine beeindruckende Szene. Der Raum war auf eine höchst dramatische Art und Weise abgedunkelt. Mrs. Fordyce saß allein an einem Tisch, der nur von einer einzelnen Lampe erhellt wurde. Aus dieser Position beantwortete sie Fragen und machte Bemerkungen höchst persönlicher Art über viele der Anwesenden.
Nach dieser Vorstellung war man allgemein der Ansicht, dass nur der Besitz höchst außergewöhnlicher übersinnlicher Fähigkeiten dafür verantwortlich war, dass Mrs. Fordyce so ungeheuer genau auf die Fragen antworten konnte, die man ihr gestellt hatte. Die erstaunliche Genauigkeit ihrer Bemerkungen über die Anwesenden in dem Raum, die sie zuvor nicht gekannt hatte, hinterließ einen tiefen Eindruck.
Mrs. Fordyce wurde später überschüttet von Anfragen nach Seancen und Sitzungen. Man schlug ihr auch vor, dass sie Mr. Reed, den Präsidenten der Gesellschaft für übersinnliche Untersuchungen, um die Erlaubnis bitten sollte, sich im Wintersett House, dem Sitz der Gesellschaft, testen zu lassen. Sie schlug all diese Aufforderungen aus und machte deutlich, dass es keine weiteren Demonstrationen oder Darbietungen ihrer Fähigkeiten geben würde.
Unter den Wissenschaftlern, die solche Phänomene untersuchen, ist es allgemein bekannt, dass der Einsatz eines solchen übersinnlichen Talents eine beträchtliche Belastung für die Nerven bedeutet, und die sind, so hat die Natur es nun einmal eingerichtet, bei Frauen bei weitem noch empfindsamer als bei Männern.
Mr. Reed hat unserem Korrespondenten berichtet, dass die Sorge um die Gesundheit der Nerven der einzige Grund für das Zögern eines weiblichen Mediums ist, seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Er hat erklärt, dass die angeborene Zartheit ihrer Gefühle und der Wunsch nach Bescheidenheit, die Kennzeichen einer jeden wahren Dame, dafür sorgen, dass eine Frau, die sowohl wirklich übersinnliche Fähigkeiten als auch einen feinen Sinn für Anstand besitzt, nur äußerst zögerlich zustimmen wird, ihre Kräfte in der Öffentlichkeit zu zeigen.
1
Das Gesicht des toten Mediums war ein geisterhafter Schatten unter dem blutgetränkten Hochzeitsschleier.
Im Leben war die Frau recht hübsch gewesen. Der lange, schwere Rock eines dunkelblauen Kleides lag zerknittert um ihre schlanken Beine mit den weißen Strümpfen. Der eiserne Feuerhaken, mit dem man ihr den Hinterkopf eingeschlagen hatte, lag gleich neben der Leiche.
Adam Hardesty ging durch das kleine, halbdunkle Zimmer und zwang sich, die unsichtbare Barriere zu überwinden, die der ganz besondere Geruch und die eisige Kälte des Todes schufen. Er hockte sich neben dem leblosen Körper nieder und hielt die Kerze hoch.
Durch den durchsichtigen Schleier erkannte er das Glitzern der blauen Perlen, die als Kette um den Hals von Elizabeth Delmont lagen. Dazu passende Ohrringe steckten in ihren Ohren. Auf dem Boden neben ihren blassen, leblosen Fingern entdeckte er eine zerbrochene Taschenuhr. Das Glas war zersplittert, die Zeiger der Uhr waren um Mitternacht stehen geblieben.
Er zog seine eigene Uhr aus der Tasche seiner Hose und sah nach der Zeit. Zehn nach zwei. Wenn die Uhr auf dem Teppich in der Tat bei dem heftigen Kampf zerbrochen war, der in diesem Zimmer stattgefunden hatte, war Delmont vor ein wenig mehr als zwei Stunden ermordet worden.
Eine Trauerbrosche, verziert mit schwarzem Emaille, lag auf dem geschnürten, mit Spitze besetzten steifen Mieder des blauen Kleides. Es sah so aus, als hätte jemand die Brosche absichtlich auf Delmonts Busen gelegt, eine Art grimmiger Parodie der Totenehrung.
Adam nahm die Brosche hoch und drehte sie um, um sich die Rückseite anzusehen. Die flackernde Kerze erhellte eine kleine Fotografie, das Portrait einer Frau mit hellem Haar, in einem weißen Kleid und mit einem Hochzeitsschleier. Die Lady schien nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre zu sein. Etwas an dem traurigen, resignierten Gesichtsausdruck auf ihrem wunderschönen, ernsten Gesicht erweckte den Eindruck, dass sie sich nicht auf das Eheleben freute. Unter dem
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