Der Mantel - Roman
Nein, Tomas´ konnte das nicht von ihm erwarten. Er hätte nicht einmal davon wissen sollen. Schmidt spürte, dass der heiße Druck in ihm abnahm, aber er fühlte sich schlecht. Er atmete tief, um den krampfenden Magen zu entspannen. Wie es wohl um Fabian und Shiva stand? Man kann Jahrzehnte nicht in Tagen tilgen. Die Musik war schön, doch er konnte nur in Intervallen folgen.
Der in der Dunkelheit aufbrausende Applaus riss ihn aus seinen Gedanken. Schmidt hätte so gern seinen Platz in dem sich rasch leerenden Saal beibehalten, sich nicht bewegt. Und wenn überhaupt, allenfalls um das Gebäude ganz zu verlassen.
Seine Mutter jedoch hatte ihm seinen Auftritt in der letzten Pause nachgesehen. Sie schien sich nicht einmal mehr daran zu erinnern. Ihr Gesicht leuchtete, erfüllt von der Musik. Ihre Hand bewegte sich leicht auf seinem Unterarm. »Ulrich, lass uns in die Opernbar gehen. Die Leute warten, dass du aufstehst.« Ja, sie saßen recht weit außen, und das Publikum in ihrer Reihe schaute ihn, der sich nun erst erhob, vorwurfsvoll an. Also wieder im schwarzen Strom die Treppe hinunter. Tomas´ hielt mit seiner Mutter die Stellung an einem der Stehtische, während sich Schmidt dankbar in die Reihe am Ausschank gestellt hatte. Zeit allein, Zeit ohne bedrängende Gespräche. Aber die Abfertigung war unerfreulich zügig.
Zurück am Stehtisch ging es um die Rollenbesetzung, die Musik, die Inszenierung. Seine Mutter und sein Vater – er spürte wieder die Schwäche in sich aufsteigen, wenn er daran dachte – hier standen seine Eltern – schwelgten in der frischen Erinnerung.
Da sah Schmidt, wie sich ein Fels durch die Menge bewegte. Wie ein Seelöwenbulle, schwerfällig und schwankend durch seine aneinandergedrängte Herde. Es war Wimmer. Er mochte noch mehr schwitzen als Schmidt selbst. »Hallo Herr Schmidt. Was für eine Überraschung. Sie habe ich hier gar nicht erwartet! Sie haben aber Sabine – äh, Frau Graseder – nicht dabei?«
Schmidt spürte die nächste Hitzewelle. Was für ein Herz-Kreislauf-Abend. Schmidt versuchte sich in Gelassenheit: »Herr Wimmer, das ist ja eine Freude. Nein, Frau Graseder ist nicht mit dabei. Aber ich darf Ihnen meine Mutter vorstellen und …«, nach ungewollt langem Innehalten, »… einen langjährigen Freund unseres Hauses.«
Seine Eltern lächelten freundlich genug, dass Wimmer den Konflikt des Abends nicht sofort erraten konnte. Seine Mutter ergänzte rasch: »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Sohn hat mir viel von Ihnen erzählt.«
Wimmer grunzte befriedigt über diese Würdigung. »Was für eine fulminante Aufführung. Ich kann mich nicht entsinnen, Eugen Onegin je so gut aufgeführt gesehen zu haben. Ich will nicht weiter stören. Einen schönen restlichen Abend.« Er bewegte sich kurz nach vorn, dann entschwand er verblüffend behände in der formlosen Menge. Eben ein Seelöwenbulle, dachte Schmidt.
»Ein netter Mann. Dein wichtigster Mandant, stimmt’s? Sabine ist wohl deine Kanzleihilfe?« Sie hatte die letzte Frage mit einer unterschwelligen Betonung gestellt. Schmidt beeilte sich darum mit der Antwort. »Alles richtig. Du passt gut auf und kombinierst ebenso gut. Nun bist du in wenigen Minuten mit meinem Kanzleiökosystem vertraut geworden.« Besser als eine weitere Familienstrecke, dachte er voller Schrecken. Er entschuldigte sich erneut. »Mir ist nicht gut.« Die Frage seiner Mutter erreichte ihn nicht mehr. Sein Kreislauf war unrund. Der Weißwein hatte es verschlimmert. Diesmal musste er auf ein Waschbecken warten. Alle waren besetzt. Er betäubte die aufkommende Unruhe mit tiefen Atemzügen. Das kalte Wasser half ihm dann sehr. Er wurde ruhiger, die Übelkeit wich einer tiefsitzenden Erschöpfung. Er zwinkerte sich im Spiegel ermunternd zu und ging mit der allgemeinen Bewegung zurück. Der Gong war so viel Erlösung wie Drohung. Zurück in den Stuhl für eine weitere Stunde, aber wenigstens der Konversation über kritische Themen entronnen. Es gab an diesem Abend ein problematisches Leitmotiv. Als er die beiden wieder erreichte, lächelte er tapfer, wie seine Mutter und sein Vater. Mittlerweile war ihnen seine innere Abwesenheit bewusst geworden.
Im dritten Akt ergossen sich die Sinnesreize im Überfluss auf das Publikum. Die auftrumpfende Musik und die funkelnde, sprühende Party in St. Petersburg, in der Tatjana Eugen Onegin förmlich blendet. Schmidts Kraftreserven schmolzen beschleunigt dahin in dem Strudel der Klänge, Lichter, Farben auf
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