Der Mantel - Roman
Wimmer waren sie zu einer lebensbestimmenden Kraft geworden. Und da sie keine Erwiderung erlaubten, schufen sie eine eigene, unverrückbare Realität. Das war die Absicht des Autors, bewusst oder unbewusst. Ein einseitiger Akt der Einflussnahme. Schmidt fasste den Briefumschlag mit beiden Händen und zerriss ihn. Langsam und gründlich. Er musste Kraft dafür aufwenden, es mochten drei oder vier gefaltete Blätter sein. Er genoss die Anstrengung, die es ihm bereitete, das handschriftliche Werk – denn das erkannte er an den sich auf dem Schreibtisch ausbreitenden Schnipseln – zu häckseln, ungelesen. Er hatte sich jedenfalls intensiv mit dem Papier befasst, dachte er mit grimmiger Befriedigung.
Er betrachtete die vielen Fetzen. Sie hatten sich beide bemüht, jeder auf seine Weise. Er sammelte die Schnipsel zusammen, schob sie in einen großen Umschlag und warf ihn in seinen Papierkorb. Bearbeitet, so gut er konnte. Er blickte leer auf die ausladende Schreibtischplatte. Vor ihm, am oberen Rand, die Körbe mit den eingegangenen Schriftsätzen, sortiert von der allgegenwärtigen Sabine Graseder, und die mit seinen Entwürfen sowie sonstiger Korrespondenz. Rechts von ihm das zur Seite geschobene Roulettespiel, wie er es in der letzten Nacht hatte stehen lassen, mit Block und Zahlenreihen, dem Teller, Harke, der Kasse für die Jetons. Nein, dafür war es zu früh, nicht schon am Tag. Für Aktenstudium war er aber auch nicht geeignet in diesem Moment. Er fühlte sich kraftlos nach einer Roulettenacht mit wenig Schlaf. Der Kopf sank widerstandslos auf die verschränkten Arme. Schmidt schlief sofort ein.
Plötzlich richtete er sich so schnell mit hochruckendem Kopf auf, dass ein heißer Schmerz durch seinen Nacken blitzte. Der Hund kam hereingewankt, leise winselnd. Der Kopf hing tief, die Nase lief, der Körper schwankte wie bei einem Passgänger. Kurz vor dem Schreibtisch knickten seine Beine ein. Er fiel wie gefällt zur Seite und Schmidt sprang mit einem Schrei auf. Er sah, dass der Hund den Kopf in den Nacken warf, die Beine von sich gestreckt. Sie zitterten libellenschnell in heftigem Muskelkrampf. Schmidt hatte sich nun hinter dem Hund niedergekniet. Eine Hand hatte er beruhigend auf den Brustkorb gelegt, die andere auf den zurückgerissenen Schädel. Vorgebeugt suchte er Shivas Blick. Doch dessen Augen hatten sich unter den Lidern nach oben gedreht. Blutunterlaufenes Weiß blinkte ihm entgegen. Er brabbelte immer wieder Shivas Namen, dann ging ein Ruck durch den großen Hundekörper und alle Spannung wich in einem Moment. Schmidt senkte seinen Oberkörper auf den Leichnam, als wollte er die verbliebene Lebenswärme empfangen und halten. Es war still in dem Zimmer, alle Spannung entwichen. Er hatte nicht gehört, dass Sabine Graseder eingetreten war. Sie hatte eine Weile gewartet, das Schlussbild vieler Jahre mit dem engsten Gefährten von Schmidt in sich aufgenommen.
Nun machte sie einen Schritt nach vorne und legte ihre Hand auf Schmidts Schulter. Er zuckte nur, ohne sich aufzurichten. Sie ließ ihre Hand eine Weile ruhen, eine leise Kraftübertragung, die er bewegungslos empfing. Dann sagte sie »Ulrich«. Er sprach tonlos. »Danke. Geht schon.« Und nach kurzer Pause: »Ich muss jetzt allein sein.« Ihre Stimme war weich. »Sicher. Ich komme dann morgen nach dem Rechten sehen.« »Danke, Sabine.« Er lächelte schief, als er zu ihr hochschaute. Sie fuhr kurz mit der Hand über seinen Kopf, dann verließ sie den Raum.
Stunden später rief er Fabian zu Hause an. Der Junge war sofort am Apparat. Seine Stimme war fest: »Mama hat es mir gesagt. Was soll nun geschehen?«
Schmidt war heiser. »Geschehen? Ich werde ihn begraben.«
»Bin ich dabei?«
»Nein, Fabian, aber wir werden ihn zusammen besuchen.«
»Dann lässt du mich nicht allein?« »Bestimmt nicht.« In dem Moment war es ihm klar. Es müsste eine der Kastanien an der Isar sein. Und es würde nachts passieren. Er hatte die Spritze vermieden, er würde auch die vorgeschriebene Beseitigung vermeiden. Die nächtliche Kastanie und nur er und der Hund.
Der Seesack war schnell gefunden, ebenso das Eisenwarengeschäft mit dem Spaten.
***
In dieser Mainacht fällt der Regen wie ein Vorhang. Unablässig, dicht und so heftig, dass man die Tropfen kaum mehr unterscheiden kann. Auch die Geräusche der Stadt hat er erstickt mit seinem leisen monotonen Rauschen, wie im Winter der Schnee. Ein mittelgroßer Mann geht schweren Schrittes auf den menschenleeren
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