Der Memory Code
einer jungen Mutter aneinandergeriet. Die Frau hatte so feuerrot gefärbtes Haar, dass es aussah, als stünde sie in Flammen, und die Durchsuchung ihres Kinderwagens nahm offenbar rasch Formen an, die über reine Routine hinausgingen. Joshua schob sich dichter an die Streitenden heran, um einen besseren Winkel für seine nächste Aufnahme zu bekommen.
Bisher hatte er sich lediglich die Zeit vertrieben. Eigentlich wartete er auf die Ankunft einer internationalen Delegation von Blauhelmen, die an diesem Morgen zu einer Audienz beim Papst geladen waren. Ebenso wie vermutlich die Pressekollegen und Touristen, die die heftige Auseinandersetzung entweder von vornherein ignoriert oder inzwischen die Lust daran verloren hatten, beschlich ihn allerdings langsam ein mulmiges Gefühl. Zwar waren solche Kontrollen rund um die Welt an der Tagesordnung, doch konnte man sich gleichwohl des Eindrucks nicht erwehren, als hinge in der Luft eine latente Gefahr für Leib und Leben, als könne man sie förmlich riechen wie Rauch bei einem Feuer.
Von Ferne rief ein klangvoller Glockenton die Gläubigen zum Gebet, sein hallendes Echo ein krasser Gegensatz zum schrillen Gekeife der Frau, die sich weiter mit dem Sicherheitsposten herumstritt. Mit einem Male rammte sie dem Wachmann mit voller Wucht den Kinderwagen gegen die Beine, und genau in dem Moment, als Josh die Szene mit jener Schärfe erfasste, die er als seinen “perfekten Blick” bezeichnete, jene Art Konfliktaufnahme also, um die sich die Zeitungen rissen und die sie mit Vorliebe auf Zelluloid gebannt erhielten, sah er den bläulich-weißen Lichtblitz.
Dann ein heftiger Knall.
Im nächsten Augenblick explodierte die Welt.
Geborgen im schützenden Schatten des Altars besprachen Julius und sein Bruder im Flüsterton noch einmal die abgeänderten Pläne für den letzten Teil der Rettung. Beide hielten die Hand am Dolch, kampfbereit, sollten sie aus dem Dunkel heraus von Soldaten des Kaisers angegriffen werden. Im Jahre des Herrn 391 boten die Tempel den heidnischen Priestern schon lange keine Zuflucht mehr. Ein Übertritt zum Christentum war ihnen nicht etwa freigestellt, sondern von oberster Stelle angeordnet. Widersetzte man sich, beging man ein Vergehen, das mit dem Tod geahndet wurde. Im Namen der Kirche vergossenes Blut war nicht etwa Frevel – es war der Preis des Sieges.
Die beiden Brüder legten sich ihren Schlachtplan zurecht: Drago sollte noch eine Stunde länger im Tempel ausharren und sich anschließend am Grabmal beim Stadttor mit Julius treffen. Die pompöse Bestattung, die noch am Morgen dort stattgefunden hatte, war als Ablenkungsmanöver zwar erfolgreich gewesen, doch waren aufseiten der beiden Brüder bei Weitem nicht alle Sorgen zerstreut. Alles hing davon ab, dass der nun folgende letzte Teil in ihrer Strategie reibungslos klappte.
Den Mantel eng um den Körper gezogen, legte Julius dem Bruder die Hand auf die Schulter, wünschte ihm Glück und Lebewohl und stahl sich sodann aus der Basilika hinaus, dicht an der Wand des Tempels entlang, um nicht gesehen zu werden. Da plötzlich vernahm er das Klappern von Hufen, vermischt mit dem Geratter von Rädern. Reglos und mit angehaltenem Atem drückte sich Julius rücklings an die steinerne Außenmauer. Ohne anzuhalten polterte das Gespann an ihm vorbei.
Gerade hatte er den äußeren Rand des Portals erreicht, da hörte er hinter sich einen zornigen Ausruf, der die Stille zerriss wie eine unvermutete Felslawine: “Zeig mir, wo die Schatzkammer ist!”
Das war die Katastrophe, die Julius und sein Bruder befürchtet hatten. Dragos Gebot aber war unmissverständlich: Auch von einem Angriff auf den Tempel sollte Julius sich nicht aufhalten lassen. Er durfte weder umkehren noch Drago zu Hilfe kommen. Der Schatz, den Julius in Sicherheit bringen sollte, war bedeutender als irgendein Menschenleben oder auch derer fünf oder fünfzig.
Als sich ihm aber ein Schmerzensschrei messerscharf in die Ohren bohrte, verwarf Julius ihren Plan, rannte durchs schattenhafte Dunkel zurück in den Tempel und eilte hinauf zum Altar.
Sein Bruder war nicht dort, wo er sich von ihm verabschiedet hatte.
“Drago?”
Keine Antwort.
“Drago!”
Wo war er?
Julius tastete sich durch einen von glimmenden Fackeln notdürftig beleuchteten Seitengang und dann den nächsten Zwischengang wieder hinauf. Dass er Drago dort fand, lag nicht daran, dass er ihn hörte oder erblickte. Nein, er stolperte förmlich über den Körper des Bruders.
Er
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