Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Er war ein Tier, ein richtiger Mann. Seit er öffentlich auftrat, erschien es plötzlich als etwas durchaus Erstrebenswertes, seinen Körper nicht mehr zu kontrollieren. Er rülpste und furzte, wenn es ihm danach war, aß und trank mehr, als er vertrug, hatte unzählige Liebschaften, und stand irgendwo ein Regal, lehnte er sich dagegen, so als könne er sich ohne Stütze nicht mehr aufrecht halten. Das war nicht manierlich, aber provokant. Und aufregend. Viele Frauen haben sich in ihn verliebt, Männer haben ihn kopiert: Marlon Brando wurde durch sein rüpelhaftes Benehmen in den 60ern zur Ikone.
»Barbarisch, unästhetisch und unzivilisiert« sei es, schreibt der Restaurantkritiker Wolfram Siebeck ein halbes Jahrhundert später in der Zeitschrift Der Große Knigge , Weingläser am Kelch anzufassen, anstatt sie am Stiel zu halten. Das Schlimmste aber sei, dass das Fernsehen diese schlechten Manieren auch noch verbreite, indem es Schauspielern und Komparsen, Talkshowgästen und Moderatoren erlaube, Wein- und Sektgläser auf diese unelegante Art und Weise in die vielen Kameras zu halten.
Schauspieler, Models und Rock- und Fernsehstars, die Vorbilder unserer heutigen Gesellschaft, benehmen sich sowieso meistens schlecht. Denn das gehört zu ihrem Selbstverständnis. Die falsch gehaltenen Gläser zählen da allerdings noch zu den relativ harmlosen Entgleisungen.
Manieren sind ein Spiel. Sie sind gesellschaftliche Codes, mit denen sich Botschaften mit Mitmenschen austauschen lassen. Dass dabei nur eine Sorte von Botschaften erlaubt sein soll, davon sind bloß Einfallslose wie Wolfram Siebeck überzeugt.
Barbarisch, unästhetisch
und unzivilisiert – na und?
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Der Witz an diesem Spiel ist, dass es ebenso erlaubt ist, sich an die Regeln zu halten, wie, sich nicht an die Regeln zu halten – je nachdem, in welcher Stimmung jemand gerade ist:
Will ich lieber nicht auffallen oder aber überraschen? Lieber anständig oder sexy wirken? Angepasst oder rebellisch? Schmeicheln oder provozieren? Habe ich Persönlichkeit genug, etwas zu riskieren und eine Chance, die sich mir bietet, zu nutzen – auch wenn ich damit gegen eine Regel verstoße?
In den Smalltalkkursen, die ich gebe, stellen sich die meisten Teilnehmer diese Fragen jedoch nicht. Vielmehr wollen sie von mir erfahren, wie sie möglichst korrekt die vielen schwierigen Situationen und Unwägbarkeiten des Lebens meistern. Sie gehen nämlich davon aus, dass es für jede Gelegenheit passende und von offizieller Seite abgesegnete Redewendungen und Gesprächsthemen gibt, mit denen sich ein positiver Eindruck beim Gegenüber erzeugen lässt. Am allerwichtigsten scheint ihnen dabei zu sein, zu vermeiden, dass ihnen andere Menschen irgendetwas vorwerfen können.
Sie wollen sich gut benehmen, weil sie:
eine Arbeit brauchen,
neue Menschen kennenlernen wollen,
in bestimmten Kreisen anerkannt werden möchten,
sich anbiedern und anpassen wollen,
glauben, sich von anderen abgrenzen zu müssen.
Sie können es aber auch sein lassen. Denn sie irren sich, wenn sie glauben, dass sie gutes Benehmen einem dieser Ziele näher brächte oder sie beliebter mache. Das ist ja gerade das Paradox des Lebens, dass Freundschaft, Arbeit, Erfolg, Liebe nicht immer denjenigen zufallen, die es eigentlich »verdient« haben. Manchmal scheint vielmehr genau der umgekehrte Zusammenhang zu bestehen: Männer haben Erfolg bei Frauen, obwohl sie Arschlöcher sind, und sexy sind meistens Leute, die noch nie von vollkommenen Umgangsformen gehört haben, wie etwa Marlon Brando oder die Frontfrau der Punkband The Gossip, Beth Ditto. Auch Lady Gaga und die kanadische Sängerin Peaches oder Hella von Sinnen und Oliver Pocher sind nicht gerade durch ihr gutes Benehmen berühmt geworden.
Ein Vorstellungskandidat wirkt interessant, wenn er nicht ganz so gefallen möchte wie seine Mitbewerber. Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt hat Autorität und genießt Anerkennung, weil er trotz Rauchverbots überall raucht. Brave Menschen werden auch nicht zu Talkshows eingeladen. Karl-Lagerfeld-Interviews sind sicher 1000-mal interessanter als solche mit Oliver Bierhoff oder Michael Schuhmacher. Männer und Frauen, die uns ärgern, erregen unsere Aufmerksamkeit, und wenn sie sich richtig danebenbenehmen, bewundern wir sogar unwillkürlich und wider besseres Wissen ihre Dreistigkeit.
Gutes Benehmen macht unattraktiv!
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Manch schlechtes Benehmen mag einem vielleicht nicht gefallen – aber
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