Der Memory Code
zog ihn weiter hinein in den Fackelschein. Dragos Haut hatte bereits eine tödliche Blässe angenommen. Unter seiner zerrissenen Robe klaffte ein sechs Zoll langer horizontaler Schnitt, in der Mitte gekreuzt von einer senkrechten Wunde. Man hatte ihn regelrecht der Länge nach von oben bis unten aufgeschlitzt.
Julius würgte. Ausgeweidete Körper sowohl von Menschen als auch von Tieren hatte er schon des Öfteren gesehen und sie kaum eines weiteren Blickes gewürdigt. Opfergaben, niedergemachte Soldaten oder bestrafte Verbrecher waren das eine. Das hier aber war Drago, Blut von seinem Blute.
“Du solltest doch nicht … zurück…kommen”, röchelte Drago, jede einzelne Silbe mit Mühe hervorwürgend, als steckten sie ihm in der Kehle fest. “Er wollte die Tempelschätze … Ich habe … ihn … zu den … Truhen … geschickt … Ich dachte … Abgestochen hat er … mich trotzdem … Doch … noch ist Zeit … noch können wir … entkommen …!” Als er sich qualvoll hochstemmte, um sich aufzusetzen, quollen ihm bei jeder Bewegung die Eingeweide aus dem aufgeschlitzten Bauch.
Julius hielt ihn fest und drückte ihn wieder zu Boden.
“Wir müssen … sofort … los …” Dragos Röcheln wurde schwächer.
Um die Blutung zu stillen, klemmte Julius die klaffende Öffnung mit den Fingern zusammen, als könne er so die Eingeweide und Nervenstränge und Blutgefäße zwingen, sich an ihren angestammten Körperstellen neu zu verbinden. Allein, es kam nichts weiter dabei heraus, als dass er sich mit der klebrigen, warmen Masse die Hände besudelte.
“Wo sind die Jungfrauen?” Dröhnend hallte die Stimme durchs innere Rund des Tempels, ohne Warnung, gleich dem Ausbruch des Vesuvs. Derbes Gelächter folgte.
Wie viele Soldaten mochten es sein?
“Auf, holen wir uns die Beute!”, ließ eine weitere Stimme sich vernehmen. “Deswegen sind wir doch hier!”
“Noch nicht! Wo stecken sie denn, die jungfräulichen Dirnen? Her mit ihnen!”
“Die Schatzkammer zuerst, du geiler Bock!”
Noch mehr Gelächter.
Demnach war’s nicht bloß einer; offenbar hatte eine ganze Kohorte den Tempel gestürmt, blutrünstig, brüllend, nach Beute gierend. Sollten sie den Tempel getrost plündern und sich austoben – sie kamen zu spät: Es gab keine Heiden mehr zu bekehren, keinen Schatz mehr zu finden, keine Frauen mehr zu schänden. Entweder waren sie tot, oder sie hielten sich versteckt.
“Wir müssen … los …”, flüsterte Drago, erneut mit letzter Kraft bemüht, sich aufzurichten. Er war zurückgeblieben, um allen anderen zu ermöglichen, sich in Sicherheit zu bringen. Warum er? Warum Drago?
“Du kannst nicht! Du bist verwundet …” Julius stockte. Er wusste nicht, wie er dem Bruder sagen sollte, dass ihm die Eingeweide bereits zur Hälfte aus der Bauchhöhle quollen.
“Dann lass … mich hier! Du musst … zu ihr … Rette sie … und den Schatz … Keiner … keiner … außer dir …”
Es ging nicht mehr um die sakralen Gegenstände. Es ging vielmehr um zwei Menschen, die dringend auf Julius angewiesen waren: um die Frau, die er liebte, und um seinen Bruder. Und nun verlangten die Schicksalsmächte von Julius, einen dieser Menschen für den anderen zu opfern.
Ich darf sie nicht sterben lassen. Aber dich dem sicheren Tode zu überantworten, das bringe ich auch nicht über mich.
Ganz gleich, wie seine Entscheidung ausfallen mochte: Wie sollte er mit ihr leben?
“Seht mal, was ich gefunden habe!”, schrie da einer aus der Soldatenmeute.
Rachegebrüll toste durch das majestätische Rund, übertönt von gellendem Kreischen – dem Entsetzensschrei einer Frau.
Gedeckt von einem Pfeiler, robbte Julius ein Stückchen vor und spähte ins Tempelschiff. Den Oberkörper der Frau konnte er nicht erkennen, da ein massiger Unhold auf ihr lag. Verzweifelt trat sie mit ihren bleichen Beinen um sich, während der Schänder sich derart brutal an ihr verging, dass sich unter ihr eine Blutlache bildete. Wer mochte sie sein, die Arme? Hatte sie sich in den alten Tempel geflüchtet in der Hoffnung, dort sicheres Obdach zu finden? Nur um anschließend festzustellen, dass sie geradewegs in die Unterwelt hinabgestiegen war? Konnte er, Julius, ihr beistehen? Die Plünderer überraschen? Nein, es waren ihrer zu viele. Mindestens acht. Inzwischen hatte die Schändung noch mehr Aufmerksamkeit erregt und weitere Soldaten angezogen, die ihre Schatzsuche erst einmal unterbrachen, um sich lüstern an dem scheußlichen Akt zu
Weitere Kostenlose Bücher