Der Menschenraeuber
Gotteshaus. Er ging hinein und war überwältigt von der unfassbaren Größe, die er zwischen den Häusern nicht vermutet hätte.
Außer einem alten Mann, der mit rundem Rücken und gesenktem Kopf in der ersten Reihe saß, war niemand in der Kirche. Jonathan setzte sich ganz nach hinten, direkt neben den Opferstock. Er schloss die Augen und roch kaltes Holz, lange verwehten Weihrauch und verbranntes Wachs.
Er fror. Seine Füße waren eiskalt, aber er blieb dennoch eine Viertelstunde sitzen. O Herr, sprach er in Gedanken, obwohl er sich nicht erinnerte, nach seinem zwölften Geburtstag jemals wieder gebetet zu haben, wo soll ich hin? Was soll ich tun? Was hast du mit mir vor? Er wartete auf eine Antwort, aber die Kirche blieb still und unverändert wie zuvor.
Nach weiteren drei Minuten stand er mit klammen Gliedern auf, entzündete eine Kerze am Opferstock und machte sich dann auf den Weg, die Stadt zu verlassen, die ihm an diesem Novembernachmittag zu laut und zu grau war und ihn noch depressiver machte, als er ohnehin schon war.
Er ließ sich treiben, wollte dem Schicksal die Entscheidung überlassen und stieg am Ende der Fußgängerzone in den ersten Bus, der kam. Siena stand auf der digitalen Anzeige. Auf keinen Fall wollte er bis Siena fahren, nicht schon wieder in eine Stadt, sondern irgendwo aussteigen, in einem kleinen Ort, irgendwo.
Das leichte Schaukeln des Busses machte ihn müde, aber er kämpfte gegen den Schlaf, um nicht erst an der Endstation wieder aufzuwachen. Die langgestreckten, kalten und funktionalen Industriebauten zwischen Montevarchi und Bucine waren abstoßend, und Jonathan bedauerte, dass der Schaffner im Zug so früh gekommen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, bis ins Latium zu fahren.
Hinter Bucine wurde die Landschaft lieblicher. Als er vor sich auf einer Anhöhe Ambras mittelalterlichen Stadtkern liegen sah, stieg er kurzerhand aus und ging in die Altstadt.
Jede kleine Gasse, jede Treppe, jeden dunklen Gang erkundete er und grüßte jeden, der ihm entgegenkam.
Allmählich wurde es dunkel. Das gelbe Licht der Straßenbeleuchtung beruhigte ihn und weckte in ihm fast so etwas wie ein heimatliches Gefühl.
In einem kleinen Alimentariladen kaufte er sich warme Lasagne in einer Pappschachtel, die er auf der Straße im Gehen aß, und betrat anschließend die Bar. Er bestellte sich ein Mineralwasser und einen halben Liter Wein und setzte sich an den Tisch unter dem Fernseher.
In der Bar war es laut und voll. Eine blonde und eine dunkelhaarige Frau hinter dem Tresen bedienten mit stoischer Ruhe. Er wusste, dass jetzt die Entscheidung fallen musste, wie es an diesem Abend und in dieser Nacht mit ihm weitergehen sollte. Wenn er es nicht schaffte, nach diesem halben Liter sofort zu gehen, dann würde er hier versacken und keine Unterkunft mehr finden. Nervös starrte er auf die Straße. Sie glänzte im Licht der Laternen, es regnete jetzt stärker.
In seinem Wörterbuch suchte er sich schließlich die nötigen Vokabeln heraus, um nach einem Zimmer für eine oder mehrere Nächte zu fragen, aber zuerst wollte er in Ruhe zu Ende trinken und jeden Schluck genießen, wenn er sich mehr nicht genehmigen durfte.
Als sich der Wein warm in seinem Magen ausgebreitet hatte und ihm leicht zu Kopf gestiegen war, ging er zum Tresen.
»Scusi«, sagte er zu der Blonden, die kleine Espressounterteller aus der Spülmaschine nahm und mit einem entsetzlich lauten Scheppern aufeinanderknallte, »cerco camera. Zimmer. Room. Per la notte, oder for a week. Oder länger. Don’t know.«
Offensichtlich hatte sie den wüsten Sprachenmix verstanden, denn sie grinste, aber verzog auch gleichzeitig den Mund, als wolle sie damit ausdrücken: Oh, das wird schwierig.
Jonathan bekam einen Schreck.
»Hotel?«, fragte er erneut. »Pensione?«
Jetzt zog die Blonde die Augenbrauen hoch. »Abbiamo novembre!«, sagte sie beinah vorwurfsvoll, »tutto è chiuso!« Dann wandte sie sich an zwei Bauern, die am Tresen standen, Grappa tranken und den Fremden aufmerksam musterten. »Der Mann hier sucht ein Zimmer zum Übernachten. Wisst ihr was?« Und ohne die Antwort abzuwarten, fragte sie Jonathan: »Tedesco?«
Jonathan nickte.
Riccardo hatte den Deutschen schon länger beobachtet. Er schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig, obwohl seine Haare schlohweiß waren und ihm bis auf die Schultern fielen. Sein Fünftagebart war grau, und seine Augen wirkten müde.
Komischer Vogel, dachte Riccardo, wie ein normaler
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