Der Menschenraeuber
mehr mit dir, sondern weil ich überhaupt nicht mehr leben will! Kapierst du das nicht?«
Jonathan schwieg, aber seine zitternden Hände trommelten ein Tremolo auf die Tischplatte, und er stierte zu Boden.
»Irgendwann muss doch mal Schluss sein!« Jana wischte energisch über die Arbeitsplatte. »Irgendwann müssen wir beide doch mal wieder von vorn anfangen, Jon, einen Schlussstrich ziehen, in die Zukunft schauen!«
»Nein!« Jonathan schrie wie einer, der von der Klippe stürzt und begreift, dass er diesen Sturz niemals überleben wird. »Nein, nein, nein!«
»Du hast sie immer nur vergöttert. Mit deiner Affenliebe hast du alles kaputtgemacht«, murmelte Jana bitter. »Zwanzig Jahre hat sie unser Leben bestimmt, und selbst jetzt dreht sich immer noch alles nur um sie! Um sie, um sie, um sie, um sie!« Dann schwieg sie und flüsterte: »Immer nur um sie.«
Jonathan zitterte. Seine Gesichtshaut war knallrot, er stand kurz vor der Explosion.
Jana sah ihn an und hatte Lust, ihn zu verletzen.
»Du hast sie immer mehr geliebt als mich. Und du hast es mich verdammt spüren lassen. Und jetzt sitzt du hier rum und schikanierst mich mit deiner Trauer, deiner Einsamkeit, deinem Frust, was weiß ich. Und wirst mich noch Jahre dafür strafen, dass ich alles geopfert habe: für dich, für sie, für euch, für uns. Aber davon willst du nichts wissen, du willst nur, dass alle dein Leid sehen, der Herr und Meister geht kaputt, schaut her und bemitleidet ihn, Völker der Welt, schaut auf diesen Mann!«
Ihre Stimme war schrill, hoch und spöttisch zugleich.
Jonathan sprang auf und schlug ihr ins Gesicht.
Sie schleuderte zurück, sank zusammen und hockte auf dem Küchenfußboden.
Ohne jedes Mitleid sah er auf sie hinab und hätte ihr am liebsten noch ins Gesicht gespuckt.
»Alle Reichtümer der Welt würde ich dafür geben, dich nicht mehr sehen und ertragen zu müssen«, sagte er leise, »meine Wut ist zu schade für dich.«
Damit drehte er sich um, verließ die Küche und ging nach oben, um zu packen.
ZWEI
Als der Zug minutenlang durch die Dunkelheit eines Tunnels donnerte, wurde Jonathan bewusst, dass er keine Fahrkarte gekauft hatte.
Er saß jetzt auf dem Sprung. Beobachtete den Gang vor sich, horchte nach hinten, ob er den Kontrolleur hörte, der sich meist lautstark Gehör verschaffte, und kam sich vor wie mit fünfzehn, als er zum Handballtraining schwarzgefahren und jedes Mal tausend Tode gestorben war. Genauso fühlte er sich jetzt.
Eine halbe Stunde ging alles gut. Doch dann, unmittelbar nach San Giovanni Valdarno, kam der Schaffner von vorn in den Wagen und verlangte die Fahrkarten. Jonathan stand auf, verließ den Wagen gegen die Fahrtrichtung und stellte sich zum Ausstieg an die letzte Tür. So weit würde es der Schaffner bis zur nächsten Station nicht schaffen.
Noch nie waren Jonathan fünf Minuten so lang vorgekommen. Aber schließlich stand er doch unbehelligt und sehr erleichtert auf dem Bahnsteig von Montevarchi / Terranuova und wusste überhaupt nicht, wo er war. Er kannte die Stadt nicht, und es war mittlerweile kurz vor fünf, dämmerte bereits und fing an zu regnen.
Als er um das Bahnhofsgebäude herumging, jagte ihm der kalte Wind eine Gänsehaut über den Rücken. Er fror und zog sich die Jacke enger um den Körper.
Auf der kleinen Piazza vor dem Bahnhof standen nur wenige Autos. Ein paar alte Männer saßen trotz des Regens rauchend auf einigen Bänken vor einem Brunnen, in dem Plastiktüten, aufgeweichte Papiertaschentücher und Laubreste schwammen. Dieser Anblick war so trostlos, dass er ihn kaum ertragen konnte. Er wandte sich nach rechts, ging die Straße entlang bis zu einer unübersichtlichen Baustelle, die er nur mit Mühe überquerte, da die Autos aus mehreren Richtungen scheinbar aus dem Nichts auftauchten.
Ein paar Meter weiter begann die Fußgängerzone. Via Roma las er an einer Hauswand.
Langsam schlenderte er die Straße entlang und blieb vor fast jedem Schaufenster stehen. Bekleidungsgeschäfte, Optiker, eine Apotheke, ein Gemischtwarenhändler, ein exquisites Einrichtungshaus und zwei Zeitungsläden. Er kaufte ein deutsch-italienisches Wörterbuch und eine Landkarte von der Toskana.
Die Kirche wäre ihm beinah nicht aufgefallen, so unauffällig lag sie eingebettet zwischen Wohn-und Amtshäusern. Erst als eine alte Frau heraustrat und langsam Stufe für Stufe die Treppe herunterstieg, weil sie Angst hatte zu fallen, bemerkte er das von außen völlig unscheinbare
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