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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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beschreiben, und man kann mich lehren, sie zu klassifizieren. Man kann ihre Gesetze aufzählen, und in meinem Wissensdurst halte ich sie für wahr. Man kann ihren Mechanismus auseinandernehmen, und meine Hoffnung wächst. Zuallerletzt lehrt man mich, dieses zauberhafte und farbenprächtige Universum lasse sich auf das Atom zurückführen und das Atom wieder auf das Elektron. Das ist alles sehr schön, und ich warte, wie es, weitergehen soll. Da erzählt man mir aber von einem unsichtbaren Planetensystem, in dem die Elektronen um einen Kern kreisen. Man erklärt mir die Welt mit einem Bild. jetzt merke ich, daß wir bei der Poesie gelandet sind: nie werde ich wirklich etwas wissen. Habe ich etwa Zeit, darüber entrüstet zu sein? Man ist schon wieder bei einer anderen Theorie. So läuft diese Wissenschaft, die mich alles lehren sollte, schließlich auf eine Hypothese hinaus, die Klarheit taucht in einer Metapher unter, die Ungewißheit stellt sich als ein Kunstwerk heraus. Hatte ich so viele Anstrengungen nötig? Die sanften Linien dieser Hügel und die Hand des Abends auf meinem erregten Herzen lehren mich viel mehr. Ich bin wieder beim Ausgangspunkt angelangt. Ich begreife: wenn ich die Erscheinungen wissenschaftlich fassen und aufzählen kann, dann kann ich damit noch nicht die Welt einfangen. Wenn ich ihre ganze Oberfläche mit dem Finger abtastete, wüßte ich auch nicht mehr von ihr. Und da soll ich wählen zwischen einer Beschreibung, die sicher ist, mich aber nichts lehrt, und Hypothesen, die mich angeblich etwas lehren, aber keineswegs sicher sind. Mir selber fremd und dieser Welt, ausgerüstet mit keinem anderen Hilfsmittel als mit einem Denken, das sich selbst negiert, sobald es eine Behauptung aufstellt - was ist das für eine Situation, in der ich nur Frieden finden kann durch die Ablehnung des Wissens und des Lebens, in der die Eroberungslust an Mauern stößt, die diesen Begriffen trotzen? Wollen heißt Widersprüche wecken. Alles ist auf das Zustandekommen jenes vergifteten Friedens eingerichtet, den Sorglosigkeit, Trägheit des Herzens oder tödliche Entsagung schenken.
    Auch der Verstand sagt mir also auf seine Weise, daß diese Welt absurd ist. Sein Widerpart, die blinde Vernunft, tut vergeblich so, als wäre alles klar; ich wartete auf Beweise und wünschte, sie hätte recht. So vielen anmaßenden Jahrhunderten zum Trotz, ja - auch so vielen und beredten überzeugungskräftigen Männern zum Trotz weiß ich, daß es falsch ist. Auf dieser Ebene zumindest gibt es, wenn ich nicht wissen darf, kein Glück. Diese allgemeine, praktische oder moralische Vernunft, dieser Determinismus, diese alles klärenden Kategorien haben für einen aufrichtigen Menschen etwas Lächerliches. Sie haben mit dem Geist nichts zu tun. Sie leugnen seine tiefe Wahrheit: daß er in Fesseln liegt. In diesem undeutbaren und begrenzten Universum bekommt das Schicksal des Menschen nun seinen Sinn. Viele irrationale Größen sind aufgetaucht und bleiben bis zu seiner letzten Stunde um ihn. In seiner neuen, nun auf Übereinkunft gegründeten Hellsichtigkeit wird das Gefühl für das Absurde klarer und deutlicher. Ich sagte, die Welt sei absurd, und ging damit zu rasch vor. An sich ist diese Welt nicht vernünftig - das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aber ist die Gegenüberstellung des Irrationalen und des glühenden Verlangens nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird. Das Absurde hängt ebensosehr vom Menschen ab wie von der Welt. Es ist zunächst das einzige Band zwischen ihnen. Es bindet sie so fest, wie nur der Haß die Geschöpfe aneinanderketten kann. Das ist alles, was ich in dieser maßlosen Welt, in der mein Abenteuer abläuft, klar erkennen kann. Halten wir hier einmal ein. Wenn ich diese Absurdität, die meine Beziehung zum Leben bestimmt, für wahr halte, wenn ich mich von diesem Gefühl, das mich vor dem Schauspiel der Welt ergreift, von dieser Hellsichtigkeit, die mir auf der Suche nach Erkenntnis erwächst, durchdringen lasse, dann muß ich diesen Gewißheiten. alles opfern und muß ihnen ins Gesicht sehen, um sie aufrechterhalten zu können. Vor allem muß ich von ihnen mein Verhalten bestimmen lassen und ihnen bis in ihre, letzten Konsequenzen hinein folgen. Ich spreche hier von Aufrichtigkeit. Zuvor aber will ich wissen, ob in diesen Einöden das Denken gedeihen kann.

Das Absurde als Leidenschaft

    Ich weiß bereits, daß das Denken in diese Einöden zumindest eingedrungen ist. Es

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