Der Nachtwandler
wiederum konnte sich im Wachzustand weder an ihre Verletzungen noch an die Kamera erinnern, während ihm im Schlafwandeln die Erinnerungen daran fehlten, wie er den Ehering zum Juwelier gebracht, seinen Eltern eine Kreuzfahrt geschenkt oder sein Freund das Modell abgeholt hatte.
»Es ist tatsächlich verblüffend, wie viel wir über das schlafwandlerische Gedächtnis gelernt haben«, sagte Dr. Kroeger, der als Neurologe dem Team vor zwei Jahren beigetreten war und in der Akte bereits weitergeblättert hatte.
»Wie im Traum erinnert sich auch ein Schlafwandler an bestimmte Ereignisse aus der Realität. Aber offenbar, und das ist die eigentliche Sensation unserer Forschungsergebnisse, nicht an alle. Wie es scheint, sickern nur emotional äußerst gravierende Erlebnisse in das lunatische Gedächtnis ein.«
Volwarth nickte. Genau das war seine Hypothese.
Die Fehlgeburt, Natalies Verschwinden, der enorme Abgabedruck wegen der Ausschreibung – an all das hatte Leon sich erinnern können. An weniger einschneidende Erlebnisse hingegen nicht.
Das vielleicht Interessanteste aber war in Volwarths Augen die Tatsache, dass das schlafwandlerische Gedächtnis Informationen aufeinander aufbauen konnte. Dies hatte bereits die (überaus schwierige) Inszenierung des ersten »Aufwachens« bewiesen: des Augenblicks, in dem Leon mit Latexhandschuhen und der Kamera auf dem Kopf zu erwachen glaubte, in Wahrheit aber schlafwandelte. Von dem Moment an, als er sich zum ersten Mal mit der Kamera auf dem Kopf hinlegte, bis zum ersten Blick auf die Videobänder waren vierzehn Stunden vergangen. Vierzehn Stunden, in denen Leon jedoch nicht geschlafen hatte, zumindest nicht ausschließlich. Zunächst war er mit der Kamera auf dem Kopf aus der Phase des Nachtwandelns in einen sehr erschöpften, nahezu komatösen Schlaf gefallen, in dem die Forscher ihm die Kamera mühelos wieder abnehmen konnten. Leon schlief vier Stunden, wachte auf und arbeitete an seinem Modell; eine Phase, an die er sich später beim Schlafwandeln nicht mehr erinnern konnte, weswegen er so erstaunt war, als er beim Telefonat mit seinem Kollegen Sven merkte, wie viel Zeit vergangen war.
Um Leon für die nächste Versuchsanordnung präparieren zu können, hatten sie seinem Tee ein leichtes Barbiturat beigegeben. Er trank ihn im wachen Zustand, weswegen er sich schon kurze Zeit später mit zunehmenden Kopfschmerzen wieder zu Bett legte. In diesem betäubten Zustand war es ihnen problemlos möglich gewesen, Leon die Handschuhe anzuziehen sowie ihm die Kopfkamera aufzusetzen. Nur die Uhr, die er bei seiner letzten schlafwandlerischen Phase getragen und im Wachzustand beim Arbeiten abgelegt hatte, vergaßen sie. Eine Unstimmigkeit, die Leon später bemerkte, die aber zum Glück keine Auswirkungen auf den weiteren Ablauf gehabt hatte. Leon glaubte nach vermeintlich vierzehn Stunden Schlaf zu erwachen, tatsächlich aber hatte er die dazwischenliegende Wachphase verdrängt, und sein schlafwandlerisches Gedächtnis knüpfte nun – wie erhofft – genau an dem Punkt an, an dem es seine letzte somnambulistische Phase beendet hatte: Er stieg aus dem Bett, sah sich das Video an und entdeckte den Schrank.
Alles Weitere ist Geschichte. Eine Ruhmesgeschichte der Medizin!
»Dass wir überhaupt erstmals ein schlafwandlerisches Traumgedächtnis belegen konnten, ist phänomenal«, lächelte Volwarth. »Zudem haben wir gelernt, dass ein Patient beim Nachtwandeln offenbar auch über seinen Zustand reflektiert.«
Auf dieses Ergebnis war Volwarth besonders stolz. Viele seiner Kollegen – einige davon waren heute hier anwesend – hatten bezweifelt, dass man durch äußere Reize so in das Bewusstsein des Schlafwandlers vordringen kann, dass dieser seine Situation begreift, ohne sich aus ihr befreien zu können. Das aber war durch die Wörter und Zahlen, die sich Leon im Versuchsraum auf die Hand notiert hatte, eindeutig bewiesen.
»Sehen Sie mal hier.« Kroeger hielt einen Fotoabzug hoch, auf dem er Leon in seinem Wohnzimmer gerade ein Handy reichte. »Auch hier war Nader im dritten Stadium. Während unserer Unterhaltung wirkte er zwar abwesend, wie unter Drogen, aber er schien alles aufzunehmen, was ich ihm sagte. Mir konnte er kaum ins Gesicht sehen, aber er hat die von uns gemachten Fotos von Natalie auf dem Mobiltelefon sehr genau studiert. Seine Sprache war ein wenig verschwommen, dennoch wirkte er stabil.«
Volwarth nickte bestätigend.
Wie dauerhaft Leon im dritten Stadium
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