Der neue Daniel
entschwunden war, schien er schutzlos. Der Spiegelknabe, der von frühen Träumen trächtige, mußte ihn nun allein schützen. Dieser setzte die runde Stirn gegen das frisch herandrängende Gezücht; setzte die verworrenen Laute, die Farben einer köstlichen Jugend dagegen: das Räderrasseln hinter dumpf bestrahlter Markise und den Tanz der Sonnenstäubchen, die er wie Weltensysteme durchdrang.
Und wieder trat das verschollene Zimmer aus tiefster Frühe, aus der Nachbarschaft der Quelle hervor, und entfaltete, halb verschleiert durch heimwehkranke Zärtlichkeit, stumme Ecken, schweigende Möbelgruppen, geöffnete Türen, hinter denen geheimnisreiche Welten verdämmerten ... der Knabe war Fürst eines orangefarbenen Herzogtums, das im Wolkenprunk der Sonnenuntergänge jener Zeit erglänzte und versank ...!
Daniel schob ihn vor sich her. Er sah mit langsam kälter werdendem Herzen, wie trotz anfänglichen Zurückbebens vor der stillen Waffe dieses Jüngeren die Meute wieder vordrang und auch ihn mit dem Pfeilhagel von Argumenten beschüttete. O du Herz vom Herzen Europas – – was wankst du?
Und während alle die Phrasen, all dieentnervenden Bruchstücke Großer Worte die Luft doppelt verfinsterten; – – während Daniel den Knaben an sich schließend seinen Widerstand verrinnen fühlte in einer Agonie, die der Qual des Nazareners schier vergleichbar schien – – während dies alles sich begab und jede Hoffnung versank auf Verständigung mit der konturenlosen, stets dunkler emporschnellenden Bestie – – da geschah drüben ein Wunder, trat eine Gestalt hervor.
Sie löste sich zögernd, unnahbar und fern aus dem dunklen Hintergrunde. Sie stand eine Zeitlang bewegungslos wie ein Bild aus Stein, von abweisendster Fremdheit umwittert. Ihre Augen glichen Edelsteinen: – farblose Leere war darin wie die eines Meeres vor der Dämmerung.
Dann kam sie langsam auf Daniel zu. Ihr Blick war streng und er vermeinte sie flüstern zu hören: »Ich habe viel geopfert ... um Deinetwillen.«
Er erschrak vor der Größe solchen Opfers. Das Opfer schimmerte von ihren Fingerspitzen, vom Silber ihres Kleides, von ihrem herbgespaltenen Mund, von ihrem gestrafften Hals.
Dann lächelte sie mit den Schatten eines Lächelns. Sie schritt näher herzu ... und siehe: der Knabe trat in sie hinein wie in ein Tor. Entschwindend verschmolz er mit ihr.
Und als Daniel aufblickte, war keine Grube mehr und waren keine Mauern um ihn, wo er stand. Und fern auf einem Hügel vor einem dunkeln Blau, das erster sanfter Lichtkern stufenweiserhellte, stand sein Sommerhaus – und die Fenster ob dem Söller klafften weitgeöffnet. Indem er noch starrte, blitzte es golden auf über den Treppen. Ihm war, als höre er Gesang herüberbringen wie von Chören.
Finale
Die Chöre werden zerrissen.
Es dröhnt.
Das einzige Wort: »Du!!«
Erwin zuckt zusammen und fährt auf.
Er sieht eine Zeitung vor sich knisternd in zitternder weißer Faust hin- und herschwanken und seine halb schlaftrunkenen Augen starren auf eine Prozession von Buchstaben, die schwarz und gewaltig groß über die ganze Breite des Blattes marschieren. Die Worte heißen:
»Germany accepts Wilson's terms. Offers armistice.«
Er reibt sich die Augen und setzt sich schwer auf. Das Blatt gleitet zerknittert auf den Boden und Mildred kniet darauf. Ihr Hals zuckt, sie lacht und schluchzt und sie stößt kleine Sätze hervor ganz außer sich, mit einer hohen Stimme, die er noch nie an ihr gehört – wie die Stimme einer Amsel aus einem Dickicht des Unterholzes, wenn ein Maigewitter sich verzieht.
»Wir können weg, Erwin, begreifst du das! Wir können wirklich und wahrhaftig weg! Heraus aus diesem fürchterlichen Gefängnis, unterMenschen zurück! Wir kommen wieder zu Menschen ! Wieder menschenwürdig leben, o Gott! Nach Europa! Erwin, begreifst du! Warum sagst du nichts! Warum bist du so stumm! Es hätte nicht länger dauern dürfen! Ich war am Ende meiner Kraft! Und wenn ich noch neben dir vegetierte, es war Verstellung, Verstellung!«
Er greift schnell zu. Sie ist zusammengesunken. Ihre abgemagerten Arme fallen kraftlos in stumpfen Winkeln von der Bettkante. Ihre Lippen sind weiß. Er bettet sie sorgsam hin und flößt ihr etwas Whisky ein. Sie atmet schwach, als ob sie sich in Ruhe dehnen und sich wunschlos strecken könne zum erstenmal.
Sie wird unendlich kindlich dabei; unendlicher Pflege bedürftig; und die Brauenfalte, die sich früher nur in größtem Affekt auf ihrer Stirn
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