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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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die Alarmanlage. Falls es mal einen Fehlalarm gab, weißt du. Deshalb konnte ich sie abschalten, als ich das Fenster eingeschlagen hatte, um reinzukommen. Nur falls du dich fragst, wieso… Ich hatte auch einen Schlüssel. Aber an der Tür gibt’s ein Zusatzschloss mit Sicherheitskette, und deshalb musste ich das Fenster einschlagen…«
    »Ist schon gut, Peter«, sagte ich ein wenig ungeduldig. Halt den Mund. Er hatte nie gewusst, wann es an der Zeit dazu war.
    Er verstummte.
    Ich holte tief Luft und ging hinein.
     
    In diesem Haus hatte ich meine Kindheit verbracht, und es war alles noch genauso wie damals.
    In der Diele ein Garderobenständer mit muffigen Mänteln, ein Telefontisch mit einem Handapparat aus den Siebzigerjahren und einem Haufen hingekritzelter Namen, Nummern und Notizen, die sich in einer Pappschachtel stapelten, Notizen in Dads Handschrift. In einer von Dad selbst gefertigten Wandnische eine kleine, grazile Statue der Jungfrau Maria. Im Erdgeschoss das Esszimmer mit dem narbigen alten Tisch, die kleine Küche mit dem schmuddeligen Herd und dem Resopaltisch, das Wohnzimmer mit den Bücherregalen, der abgenutzten Polstergarnitur und einem verblüffend neuen Fernseher samt Videorecorder und DVD-Player. Die schmale Treppe – genau fünfzehn Stufen, wie ich als Kind gezählt hatte – zum Treppenabsatz im Obergeschoss mit dem Badezimmer, dem Elternschlafzimmer, drei kleinen Zimmern und der Luke zum Dachboden. Die Tapete war schlicht, sah aber nicht so schäbig aus, wie ich erwartet oder befürchtet hatte. Dad musste also nach meinem letzten Besuch vor fünf oder sechs Jahren renoviert haben – oder renoviert haben lassen, vielleicht von Peter, der groß und klobig hinter mir auf der Fußmatte stand. Ich wollte ihn nicht danach fragen.
    Es erschien mir alles so klein, so verdammt klein. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich als Riesen wie Gulliver, gefangen in dem Haus; meine Arme steckten im Wohnzimmer und in der Küche, die Beine in den Schlafzimmern.
    Peter betrachtete die Jungfrau. »Immer noch ein katholisches Haus. Pater Moore wäre stolz.« Der Gemeindepfarrer aus unserer Kindheit, freundlich, aber Furcht erregend; er hatte uns die Erstkommunion erteilt. »Gehst du noch zur Kirche?«
    Ich zuckte die Achseln. »Ich würde mit Dad zur Weihnachtsund Ostermesse gehen, wenn wir zusammen wären. Ansonsten könnte man wohl sagen, ich bin vom Glauben abgefallen. Und du?«
    Er lachte nur. »Da wir so wenig über das Universum wissen, kommt mir die Religion ein bisschen albern vor. Aber mir fehlt das Ritual. Es war tröstlich. Und die Gemeinschaft.«
    »Ja, die Gemeinschaft.« Peter entstammte einer irisch-katholischen, ich einer italoamerikanischen Familie. Beide waren wir auf unsere Weise Klischeefiguren, dachte ich und starrte zum Gipsgesicht der Jungfrau Maria hinauf, das in einem Ausdruck schmerzerfüllter Freundlichkeit erstarrt war. »Als Kind war ich wahrscheinlich an dieses ganze Zeug gewöhnt. Gesichter, die von der Wand auf mich runterschauen. Jetzt finde ich es irgendwie bedrückend.«
    Peter musterte mich aufmerksam. »Alles in Ordnung mit dir? Wie fühlst du dich?«
    Eine Aufwallung von Ärger. »Gut«, fauchte ich.
    Er zuckte zusammen und drückte den Zeigefinger an die Stelle zwischen den Augen, und ich erkannte, dass er eine imaginäre Brille zurechtschob.
    Auf einmal schämte ich mich. »Tut mir Leid, Peter.«
    »Nicht nötig. Ich bin nicht hier, um dir Schuldgefühle zu machen. Dieser Augenblick gehört dir.« Er spreizte die großen Hände. »An alles, was du jetzt tust, wirst du dich dein Lebtag erinnern.«
    »Herrje, du hast Recht«, sagte ich bestürzt.
    Ich ging die paar Schritte zur Küchentür. Sie war offen. Es roch muffig. Auf dem Tisch standen eine Tasse mit Untertasse und ein Teller, daneben lag Besteck. Eine kalte Fettschicht mit ein paar vertrockneten Bröckchen drin, die wie Frühstücksspeck aussahen, überzog den Teller. Auf einer kleinen Pfütze am Boden der Tasse trieben grüne Bakterienkolonien; ich wich zurück.
    »Ich habe ihn in der Diele gefunden«, erklärte Peter.
    »Das hat man mir gesagt.« Dad hatte eine Reihe schwerer Schlaganfälle erlitten. Ich nahm die Tasse, die Untertasse und den Teller und trug sie zur Spüle.
    »Ich glaube nicht, dass er sich beim Hinfallen verletzt hat. Er sah friedlich aus. Er lag direkt da drüben.« Peter zeigte zur Diele. »Von diesem Telefon aus habe ich das Krankenhaus angerufen. Den Rest des Hauses habe ich nicht betreten.

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