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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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schiefen Zähne sehen konnte und das Zahnfleisch, wie bei einem Maulesel. Er hat meinen Gruß nachgemacht und sich mit der Hand schräg an die Wange getippt.
    »Okeh-Scheff!«
    Ich habe ihm zugezwinkert und die Tür leise hinter mir geschlossen. Da hatte er schon den Zipfel seines Betttuchs im Mund und nuckelte daran. Er zwinkerte zurück, mit beiden Augen gleichzeitig. Mit einem allein schafft er es nicht.
    Und ich habe wie jeden Abend gedacht: Du bist mir einer, Roswell! Leider hast du es übel erwischt, als du aus dem Bauch deiner Mutter gekrochen bist.

 
    A ls ich die Treppe zehn Minuten später wieder runterging, kreiste das Gespräch immer noch um Roswell.
    Marlène saß Bertrand gegenüber rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf der Rückenlehne verschränkt, das Kinn daraufgestützt und den Rock bis über die Oberschenkel hochgeschoben. Sie zog an ihrer Zigarette, die Lippen zusammengekniffen, ein Mundwinkel schräg nach unten, die Augen wegen des Rauchs halb geschlossen. Sie wirft sich gern in solche Westernposen. Das ist ihre »Catamini-Jane«-Seite, wie sie sagt. Ihr Zorn war noch lange nicht verflogen, sie redete sehr laut.
    Es stank wie im Pumakäfig – der Geruch des verbrannten Popcorns mischte sich mit dem des Raumsprays. Davon musste Marlène mindestens die halbe Dose in die Luft gepumpt haben.
    Sie hatten mich nicht gehört. Ich blieb auf halber Treppe im Dunkeln stehen und lauschte gespannt. In meinen schwarzen Klamotten konnten sie mich auf keinen Fall sehen.
    Es war wie im Theater: Die beiden Hinterwäldler mitten auf der Bühne, im grellen Licht der nackten Glühbirne, das sich mit dem des ständig laufenden Fernsehers mischte, der in einer Ecke blau vor sich hin flimmerte.
    Bertrand saß mit hängenden Schultern da, so lebendig und fröhlich wie ein Gespenst, und starrte auf seinen Käse. Marlène ließ sich über Gérard aus, diesen Hemmschuh, diesen Klotz am Bein. Sie sagte, sie hätte nachgedacht. Und da wäre ihr auf einmal ein Licht aufgegangen, eine Erleuchtung, eine innere Stimme, die sagte …
    »Na los, rück schon raus mit der Sprache …«, seufzte Bertrand.
    Marlène erklärte ihren Plan. Er war einfach und klar.
    Die Idee des Tages bestand darin, Roswell auszusetzen.
    Bertrand hat einen Engel oder zwei durchs Zimmer gehen lassen und in der Zeit ein paar Würfel aus Brotkrumen geknetet. Dann hat er den Kopf gehoben.
    »Sag mal, spinnst du?«, fragte er.
    Schweigen.
    Dann weiter: »Ihn aussetzen? Du schimpfst über die Leute, die sich ihren Hund vom Hals schaffen, und willst Gérard aussetzen? Ich sag dir was: Du hast ’nen Schuss.«
    »Ich wüsste nicht, warum! Nenn mir einen Grund, warum wir ihn behalten sollten, einen einzigen!«
    »Er ist mein Bruder«, antwortete Bertrand.
    »Einen guten Grund, meine ich.«
    Bertrand hat halblaut wiederholt: »Gérard aussetzen … Verdammt noch mal, du bist ja total durchgeknallt.«
    Er grübelte vor sich hin, während er seinen Käse aufaß. Marlène stocherte in ihrem Teller rum und machte ein schiefes Gesicht. Bertrand sagte ein letztes Mal: »Ihn aussetzen … Ich fasse es nicht.«
    Er wirkte schockiert. Da er aber grundsätzlich eher von der langsamen Sorte ist, wartete ich darauf, dass er aufwachte, dass sich etwas in ihm rührte. Ich glaube, ich hoffte endlich mal auf einen Zyklon.
    Roswell aussetzen wie einen räudigen Köter?! Das würde ihn doch wohl aus seiner Gemütsruhe reißen, den guten Bertrand! Er würde sich echauffieren, er würde mit der Faust auf das Wachstischtuch hauen, seine Frau als arme Irre, als ausgefransten alten Strohbesen beschimpfen. Marlène würde endgültig ausrasten. Sie würde ihren roten Mund und ihre mit schwarzem Kajal umrandeten Augen weit aufreißen. Sie würde einen heiseren Schrei ausstoßen, ein Todesröcheln, und ein Patschhändchen aufs Herz pressen oder vielmehr auf eines ihrer 100-G-Körbchen, deren Größe ich kenne, weil ich ihre BHs oft auf der Leine hängen sehe.
    Ja, Bertrand würde ordentlich auf den Tisch oder gegen die Wand hauen, und alles wäre anders.
    Er würde reagieren.
    Ich habe die Luft angehalten.
    Da hat er gesagt: »Und wie stellst du dir das vor?«
    Das war der Moment, in dem Roswells Schicksal entschieden wurde. An einem unschuldigen Tag im April, um 20 Uhr 23.
    Und das alles wegen einer auf dem Herd vergessenen Pfanne und wegen der miesen Schufte, die sich ihre Hunde vom Hals schaffen. Wobei die natürlich das komplette Gegenteil von Marlène sind, denn sie

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