Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
Vom Netzwerk:
den Stamm des Ahornbaums. Ein Käfer huschte über die Haut seines Beins, unter seinen Hosen hinauf, doch er machte sich nicht die Mühe, hinabzugreifen und ihn herauszuziehen, oder auch nur das Bein zu schütteln, um ihn loszuwerden. Statt dessen schickte er seine Begabung los, wie ein zusätzliches Augenpaar, wie ein zusätzlicher Satz Finger, suchte nach dem winzigen, schnellen Flattern des sinnlosen, dummen Lebens des Käfers, und als er es fand, zwickte er es ein wenig, eigentlich war es eher ein Drücken, ein winziges Zucken der Muskeln um seine Augen, aber mehr war nicht nötig, nur dieses kleine Zwicken, und dann bewegte der Käfer sich nicht mehr. Es gibt Tage, kleiner Käfer, da lohnt es sich einfach nicht, morgens aufzustehen.
    »Das muß ja eine lustige Geschichte sein«, sagte eine Stimme.
    Calvin fuhr praktisch aus der Haut. Wie konnte jemand sich ihm unbemerkt nähern? Doch er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Sein Herz mochte in seiner Brust mächtig schnell schlagen, aber er wartete noch eine Minute, bis er sich auch nur umdrehte und hinschaute, und dann achtete er darauf, so uninteressiert hinzuschauen, wie man nur hinschauen kann, wenn man nicht gerade schon tot ist.
    Ein kahlköpfiger Bursche, alt und in ledernen Beinkleidern. Calvin kannte ihn natürlich. Ein weit gereister und gelegentlicher Besucher namens Geschichtentauscher. Noch einer, der glaubte, die Welt habe mit Gott angefangen und würde mit Alvin enden. Calvin betrachtete ihn von oben bis unten. Die Lederkleidung war etwa so alt wie der Mann selbst. »Habt Ihr die Kleider von ‘nem neunzig Jahre alten Hirsch bekommen, oder haben Euer Daddy und Grandpa sie ihr Leben lang getragen, damit sie so abgenutzt aussehen?«
    »Ich hab diese Kleidung so lange getragen«, sagte der alte Mann, »daß ich sie manchmal auf Botengänge schicke, wenn ich zu viel zu tun hab, um selbst zu gehen, und niemand bemerkt einen Unterschied.«
    »Ich glaube, ich kenne Euch«, sagte Calvin. »Ihr seid dieser alte Geschichtentauscher.«
    »Der bin ich«, sagte der alte Mann. »Und du bist Calvin, der jüngste Sohn des alten Miller.«
    Calvin wartete.
    Und dann kam es: »Alvins kleiner Bruder.«
    Calvin hatte sich beim Setzen zusammengefaltet und entfaltete sich nun beim Aufstehen. Ihm gefiel, wie groß er war. Ihm gefiel es, auf den kahlen Kopf des alten Mannes hinabschauen zu können. »Wißt Ihr, alter Mann, wenn wir noch einen wie Euch hätten, könnten wir eure glatten rosa Köpfe zusammentun, und ihr würdet aussehen wie ein Kinderpo.«
    »Dir gefällt es nicht, Alvins kleiner Bruder genannt zu werden, was?« fragte Geschichtentauscher.
    »Ihr wißt, wo Ihr Euch ‘ne kostenlose Mahlzeit abholen könnt«, sagte Calvin. Er ging über die Wiese davon. Da er kein Ziel hatte, wurde er natürlich kurz darauf langsamer, blieb dann stehen, sah sich um und wünschte sich, es gäbe etwas, das er tun wollte.
    Der alte Mann stand direkt hinter ihm. Verdammt, war der alte Knabe aber leise! Calvin mahnte sich, auf die Leute zu achten. Verdammich, Alvin tat das, ohne großartig nachzudenken, und Calvin konnte es auch, wenn er nur daran dachte, daran zu denken.
    »Hab dich kichern gehört«, sagte Geschichtentauscher, »als ich hinter dir auftauchte.«
    »Na, dann seid Ihr wohl noch nicht taub.«
    »Hab gesehen, wie du das Mühlhaus beobachtest, und hab dich kichern hören, und da dachte ich mir: Was sieht dieser Junge? Was ist so komisch an einer Mühle, deren Rad sich nicht drehen tut?«
    Calvin drehte sich zu ihm um. »Ihr wurdet in England geboren, nicht wahr?«
    »Allerdings.«
    »Und Ihr habt ‘ne Weile in Philadelphia gelebt, was? Habt dort den alten Ben Franklin kennengelernt, was?«
    »Was für ein Gedächtnis du hast.«
    »Wie kommt’s denn, daß Ihr wie ein Waldläufer redet? Ihr wißt genau wie ich, daß es ›eine Mühle, deren Rad sich nicht dreht‹ heißt, aber Ihr sprecht ‘ne schlechte Grammatik, als wärt Ihr nie zur Schule gegangen, und dabei weiß ich doch, daß das nicht stimmt. Und wieso sprecht Ihr nicht so wie die anderen Engländer auch?«
    »Scharfes Ohr, scharfes Auge«, sagte Geschichtentauscher. »Jedenfalls für Einzelheiten. Beschränkt, was das große Bild betrifft, aber scharf bei Einzelheiten. Mir fällt auf, daß auch du nicht so gut sprichst, wie du es könntest.«
    Calvin ignorierte die Beleidigung. Er würde sich von diesem alten Glatzkopf nicht durch irgendwelche Tricks ablenken lassen. »Ich hab gesagt, wie

Weitere Kostenlose Bücher