Der Reisende
1 Ich dachte, ich wäre fertig
Ich dachte, ich wäre fertig damit, über Alvin Smith zu schreiben. Die Leute haben mir immer wieder gesagt, dem sei nicht so, aber ich wußte, woran das lag. Natürlich daran, daß sie alle den Geschichtentauscher und die Art und Weise gehört hatten, wie er Geschichten erzählt. Wenn er fertig ist, ist bei ihm alles ordentlich zu einem Päckchen verschnürt, und man weiß so ziemlich genau, was die Dinge zu bedeuten haben und warum sie geschehen sind. Nicht, daß er einem alles haarklein erklärt, ganz bestimmt nicht. Aber man hat einfach das Gefühl, daß alles Sinn ergibt.
Nun ja, ich bin nicht der Geschichtentauscher, was einige von euch vielleicht schon vermutet haben, nachdem ihr festgestellt habt, daß wir uns gar nicht ähnlich sehen, und ich habe auch nicht vor, irgendwann in naher Zukunft zum Geschichtentauscher zu werden, oder auch nur so wie er; nicht, weil ich ihn nicht für einen guten Burschen hielte, der es wert ist, daß die Leute ihm nacheifern, sondern hauptsächlich, weil ich die Dinge nicht so sehe, wie er sie sieht. Für mich ergeben nicht alle Dinge Sinn. Sie passieren einfach, und manchmal kann man einem Schicksalsschlag nicht den geringsten Sinn entnehmen, und manchmal besteht der glücklichste Tag einfach nur aus reinem Unsinn. Man kann es nicht vorhersagen und ganz bestimmt nicht erzwingen. Ich habe selbst gesehen, wie manche Leute sich in den schlimmsten Schlamassel gebracht haben, als sie versuchten, die Dinge einigermaßen vernünftig hinzubekommen.
Also hab ich niedergeschrieben, was ich von den frühesten Anfängen von Alvins Leben weiß, bis hin zu dem Augenblick, da er als Gesellenstück den goldenen Pflug schuf, und ich habe erzählt, wie er nach Vigor zurückkehrte und sich daranmachte, die Leute zu lehren, wie sie Schöpfer sein können, und wie mit seinem Bruder Calvin schon einiges im argen lag, und ich dachte, ich wäre fertig, weil jeder, den es interessierte, von da an selbst gesehen hat, wie es weiterging, oder jemanden kannte, der es wußte. Ich erzählte euch die Wahrheit darüber, wie Alvin dazu kam, einen Menschen zu töten, um all die bösen Gerüchte zu beenden, die darüber im Umlauf waren. Ich hab euch erzählt, wieso er dann die Gesetze über entlaufene Sklaven brach, und ich hab euch erzählt, wie Peggy Larners Mama starb, und glaubt mir, soweit ich es sehen konnte, war das so ziemlich das Ende der Geschichte.
Aber das Ende ergab wohl keinen Sinn, schätze ich, und die Leute lagen mir immer mehr wegen der frühen Tage in den Ohren, und ob ich nicht mehr wüßte, was ich noch erzählen könnte? Na klar weiß ich noch mehr. Und ich hab nichts dagegen, es zu erzählen. Aber hoffentlich glaubt ihr nicht, daß alle, wenn ich alles erzählt habe, was ich weiß, genau wissen, was alles, was passiert ist, zu bedeuten hat, denn das weiß ich selbst nicht. Denn die Wahrheit ist nun mal, daß die Geschichte noch nicht vorbei ist, und ich hoffe, sie wird auch nie vorüber sein, und ich kann also bestenfalls darauf hoffen, alles so niederzuschreiben, wie es für mich bis zu genau diesem Augenblick aussieht, und ich kann euch noch nicht mal versprechen, daß ich morgen nicht alles, was ich jetzt schreibe, viel besser verstehen werde.
Mein Talent ist das Geschichtenerzählen nicht. Um der Wahrheit Ehre zu tun, das Geschichtenerzählen ist auch nicht Geschichtentauschers Talent, und er wird euch das als erster eingestehen. Klar, er trägt Geschichten zusammen, und diejenigen, die er gesammelt hat, sind wichtig, und so hört ihr zu, weil die Geschichte selbst eine Rolle spielt. Aber ihr wißt, er stellt nicht gerade viel mit seiner Stimme an, verdreht nicht die Augen und macht auch keine großen Gesten, wie die anderen Redner es tun. Seine Stimme ist nicht kräftig genug, um eine große Hütte auszufüllen, geschweige denn ein Zelt. Nein, das Erzählen ist nicht sein Talent. Wenn überhaupt, dann ist er ein Maler, oder vielleicht ein Holzschnitzer oder ein Drucker, oder wie auch immer man die Geschichte erzählen oder zeigen kann, aber auf keinem dieser Gebiete ist er ein Genie.
Tatsache ist, wenn ihr Geschichtentauscher fragt, was für ein Talent er hat, wird er euch sagen, daß er ›keines nich‹ hat. Er lügt nicht – niemand kann Geschichtentauscher diesen Vorwurf machen. Nein, als er ein Junge war, hat er sein Herz ganz einfach an ein bestimmtes Talent gehängt, und sein ganzes Leben lang hatte er den Eindruck, das sei das einzige
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