Der Ruf der Kiwis
Dies war einer seiner schlechteren Tage. Er fühlte sich steif und gereizt – wie fast immer, wenn der Jahrestag des Unglücks nahte, dem er seine Behinderung verdankte. Diesmal jährte sich der Einsturz der Lambert-Mine zum elften Mal, und wie jedes Jahr würde die Minenleitung den Gedenktag mit einer kleinen Trauerfeier begehen. Die Hinterbliebenen der Opfer, aber auch die derzeit in der Mine beschäftigten Bergarbeiter wussten diese Geste zu schätzen. Ebenso wie die vorbildlichen Sicherheitsvorkehrungen in der Mine. Aber Tim würde wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, und man würde ihn anstarren. Und natürlich würde Roly O’Brien zum tausendsten Mal erzählen, wie der Sohn des Minenbesitzers ihn damals gerettet hatte. Tim hasste die Blicke, die zwischen Heldenverehrung und Grusel schwankten.
Jetzt zog Roly sich beinahe gekränkt zurück, verfolgte jedoch aus nicht allzu großer Entfernung, wie sein Herr sich aus der Kutsche quälte. Sollte Tim stürzen, würde er zur Stelle sein – wie immer in den letzten zwölf Jahren. Roly O’Brien war eine unschätzbare Hilfe, aber manchmal ging er Tim auf die Nerven, vor allem an Tagen wie diesem, an denen sein Geduldsfaden ohnehin schnell riss.
Roly brachte das Pferd in den Stall, während Tim zum Haus hinkte. Wie jedes Mal munterte der Anblick des eingeschossigen weißen Holzgebäudes ihn auf. Nach seiner Hochzeit mit Elaine hatte er das schlichte Anwesen in kürzester Zeit errichten lassen – gegen den Protest seiner Eltern, die ihm zu einer repräsentativeren Residenz rieten. Ihre eigene Villa, zwei Meilen entfernt Richtung Stadt, entsprach weit eher den landläufigen Vorstellungen vom Haus eines Minenbetreibers. Aber Elaine hatte Lambert Manor nicht mit Tims Eltern teilen wollen, und das hochherrschaftliche, zweigeschossige Anwesen mit seiner Freitreppe und den Schlafzimmern im oberen Stock entsprach auch kaum Timothys Bedürfnissen. Zudem war er kein Minenbesitzer; die Aktienmehrheit des Unternehmens gehörte längst dem Investor George Greenwood. Tims Eltern besaßen nur noch Anteile; er selbst war als Geschäftsführer angestellt.
»Daddy!« Lilian, Tims und Elaines Tochter, riss bereits die Tür auf, noch ehe Tim sein Gewicht so verlagern konnte, dass er sich nur auf eine Krücke stützen musste und die rechte Hand für die Betätigung des Türgriffs frei hatte. Hinter Lilian erschien Rube, Tims ältester Sohn, und blickte enttäuscht drein, weil Lilian ihn schon wieder beim täglichen Wettstreit besiegt hatte, bei dem es darum ging, als Erster an der Tür zu sei, um dem Vater zu öffnen.
»Daddy! Du musst dir anhören, was ich heute geübt habe!« Lilian spielte begeistert Klavier und sang dazu – wenn auch nicht immer richtig. »
Annabell Lee
. Kennst du das? Es ist ganz traurig. Sie ist sooo schön, und der Prinz liebt sie ganz schrecklich, aber dann ...«
»Mädchenkram!«, schimpfte Rube. Er war sieben Jahre alt, wusste aber schon genau, was er albern zu finden hatte. »Guck dir lieber die Eisenbahn an, Daddy! Ich hab die neue Lok ganz allein zusammengebaut ...«
»Stimmt gar nicht! Mummy hat dir geholfen!«, petzte Lilian.
Tim verdrehte die Augen. »Schätzchen, so leid es mir tut, aber das Wort ›Eisenbahn‹ kann ich heute nicht mehr hören ...« Tröstend zauste er den rotbraunen Schopf seines Sohnes. Alle vier Kinder waren rothaarig – Elaine vererbte ihre Haarfarbe zuverlässig. Die Jungen sahen sonst aber eher Tim ähnlich. Elaine freute sich jeden Tag an dem fröhlich-verwegenen Ausdruck ihrer Gesichter und ihren freundlichen, grünbraunen Augen.
Tims Miene hellte sich endgültig auf, als er seine Frau aus den Wohnräumen in den kleinen Korridor kommen sah, in dem die Kinder ihn begrüßt hatten. Sie war wunderschön mit ihren leuchtend grünen Augen, ihrem fast durchscheinend hellen Teint und den unzähmbaren roten Kringellöckchen. Ihre uralte Hündin Callie trottete hinter ihr her.
Elaine küsste Tim sanft auf die Wange. »Was hat sie wieder gemacht?«, fragte sie zur Begrüßung.
Tim runzelte die Stirn. »Kannst du Gedanken lesen?«, erkundigte er sich verwirrt.
Elaine lachte. »Nicht direkt, aber diesen Gesichtsausdruck trägst du eigentlich nur spazieren, wenn du wieder mal über eine besonders interessante Methode nachdenkst, Florence Biller um die Ecke zu bringen. Und da du sonst auch nichts gegen Eisenbahnen hast, wird es wohl mit der neuen Schienenverbindung zusammenhängen.«
Tim nickte. »Du hast es
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