Der Schattengaenger
Wollte er mich provozieren?
»Wie die meisten Menschen auch.«
Im nächsten Moment schoss mir die Erkenntnis durch den Kopf, dass meine Eltern mit ihrer Scheidung als leuchtendes Bespiel für das Gegenteil dienen konnten, doch das musste ich Lukas ja nicht auf die Nase binden.
»Das glaubst du doch nicht wirklich«, sagte Merle, die sich tagtäglich mit ihrer Liebe zu Claudio quälte, dem elenden Bigamisten mit seiner Verlobten in Sizilien. Er hatte sich noch immer nicht eindeutig zu Merle bekannt.
»Wenn Sie mir bitte nach draußen folgen wollen«, unterbrach uns Alice mahnend und war schon im Garten verschwunden. Vielmehr in dem, was sich Garten nannte.
Ich dachte nicht mehr an das Wortgeplänkel und ignorierte das kahle Stück Grün, das wir nacheinander betraten. Vor meinem inneren Auge erschien das Bild eines duftenden Kräutergartens, durch den Hummeln und Schmetterlinge flogen. Ich stellte mir einen großen Teich vor, mit Seerosen und Wasserhyazinthen, und hörte einen Springbrunnen plätschern. Wir könnten uns einen gebrauchten Strandkorb zulegen und einen Tisch aus Stein.
»Wahnsinn«, flüsterte Merle. »Die Katzen werden hier ausflippen.«
Das glaubte ich auch. Doch zunächst einmal würden sie vorsichtig die Umgebung erkunden und ihren Radius von Tag zu Tag erweitern. Sie würden Mäuse jagen, Libellen fangen und nach Fischen angeln. Kein Dach, kein Baum wäre vor ihnen sicher.
Weil es hier nicht viel zu besichtigen gab, gingen wir in den Innenhof. Er erinnerte mich an die Laubengänge alter Klöster und erzeugte ein Gefühl in mir, das ich lange nicht mehr gespürt hatte. Voller Angst, dass es sich wieder verflüchtigen könnte, blieb ich stehen und lauschte.
Glück.
Und gleich war es wieder verschwunden.
»Probleme?«
Lukas Tadikken hatte eine angenehme Stimme. Tief und warm - und irritierend. Sie ließ mich beinahe vergessen, warum wir hier waren.
»Ganz im Gegenteil.« Ich lehnte mich an die Hauswand, schloss die Augen und streckte das Gesicht in die Sonne.
»So ein Haus würde ich gern besitzen.« Ganz kurz warf er einen Schatten auf mein Gesicht, als er sich neben mich stellte und sich ebenfalls an die Mauer lehnte. »Man könnte ein wahres Schmuckkästchen daraus machen.«
»Warum tun Sie’s nicht? Wo Sie doch an der Quelle sitzen.«
Das war mir einfach so herausgerutscht und ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Es war verrückt, ihn auf die Idee zu bringen, uns dieses Schmuckkästchen wegzuschnappen.
»Mit einem Arbeitstag pro Woche wird man in diesem Job nicht reich«, antwortete er.
»Freier Mitarbeiter?«
»So ungefähr.«
Eine verfrühte Wespe surrte an meinem Gesicht vorbei. Sonst war es ganz still. Etwas in mir ließ los und entspannte sich. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit. Ich hatte Lust, mich hinzusetzen und zu bleiben. Für immer.
Doch Alice führte uns wieder ins Haus. Treppauf. Treppab. Sie fragte nach den übrigen Bewohnern der WG und erkundigte sich nach unserer finanziellen Situation. Natürlich hätte ich ihr anbieten können, eine Bürgschaft beizubringen. Meine Mutter hätte sich liebend gern dafür zur Verfügung gestellt, aber das wollte ich nicht. Ich wollte endlich auf eigenen Füßen stehen.
»Jaaa«, sagte Alice gedehnt und unterzog Merle und mich einer letzten gründlichen Musterung. »Wie gefällt Ihnen das Objekt denn nun?«
Merle und ich guckten uns an. Dabei war die Entscheidung längst gefallen.
»Wir würden gerne hier einziehen«, sagte Merle.
»So bald wie möglich«, ergänzte ich.
»Das freut mich.« Alice packte ihre Unterlagen zusammen und tauschte ihrerseits einen einvernehmlichen Blick mit Lukas. »Sie werden dann von uns hören.«
Die beiden schickten sich zum Gehen an.
»Gibt es noch andere Bewerber?« Sosehr Merle versuchte, ihre Aufregung zu überspielen, ihre erhitzten Wangen und der Glanz in ihren Augen verrieten sie.
»Selbstverständlich«, erwiderte Alice kühl.
Ein Schlag in die Magengrube, der meine Träumereien abrupt beendete und mich unsanft auf dem Boden der Tatsachen landen ließ. Ich blickte Lukas an. Er hielt Alice die Tür auf und zwinkerte mir zu
Etwas in mir hüpfte auf.
»Mist!«, schimpfte Merle, als wir wieder im Auto saßen. »Die anderen Interessenten brauchen nur verheiratet zu sein, dann haben wir nicht den Hauch einer Chance.«
Mein Renault sprang erst beim vierten Versuch an. Ich würde mich um einen neuen Wagen kümmern müssen, denn irgendwann würde dieser hier mich auf der
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