Der Scherbensammler
Erfahrungen vergisst man wahrscheinlich nie.«
Hatte sie gestöhnt? Oder war das Edgar gewesen? Er gab manchmal die sonderbarsten Laute von sich.
»Schlimm …«
Der Hauch eines Flüsterns. Aber ich hatte es gehört.
»Ja.« Ich versuchte, meine Erregung zu unterdrücken. »Schlimm.«
Ihr Kinn kam hinter den Knien hervor. Endlich sah ich ihr vollständiges Gesicht. Sogar unter all dem Schmutz war es ziemlich hübsch. Was mir vor allem auffiel, war ihr Mund. Sie hatte volle, herzförmige Lippen, die so gar nicht zu dem schmalen Gesicht passen wollten.
Sie kraulte Edgar hinter den Ohren. An der Sicherheit ihrer Bewegungen erkannte ich, dass sie an den Umgang mit Katzen gewöhnt war. Edgar zerfloss vor Wollust.
Wir konnten nicht ewig hier bleiben. Es rumorte in meinem Magen. Merle wartete. Aber ich durfte dieses Mädchen nicht allein lassen. Sie hatte Angst. Und sie war verwirrt. Ich las es in ihren Augen.
»Verrätst du mir deinen Namen?«, fragte ich.
Sie sah mich an und gleichzeitig durch mich hindurch.
»Mina«, sagte sie so leise, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte.
Jetzt musste ich ganz vorsichtig sein. Nichts äußern, was sie wieder verstummen ließe.
»Mina, wolltest du zu meiner Mutter?«
Wieder verging eine ganze Weile, bis sie kaum merklich den Kopf schüttelte. Nicht? Aber was tat sie dann im Garten meiner Mutter?
»Ich … hab … Angst.«
Der erste vollständige Satz. Und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Langsam und vorsichtig erhob ich mich. Ich hatte so schief und verkrampft da gehockt, dass es in meinen Kniegelenken gefährlich knackte. Edgar rappelte sich ebenfalls auf, lief ein paar Schritte auf das Haus zu und schaute sich abwartend nach uns um.
»Ich bringe ihn nur schnell ins Haus«, sagte ich. »Wartest du auf mich?«
Keine Reaktion. Sie hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und wiegte sich vor und zurück.
Ich beschloss, das Risiko einzugehen und sie für einen Moment allein zu lassen. Nachdem ich die Haustür abgeschlossen hatte, ging ich wieder in den Garten. Sie saß noch an derselben Stelle.
»Willst du mit mir kommen?«, fragte ich sie.
Ich beugte mich zu ihr hinunter und berührte leicht ihre Schulter.
»Mina?«
Sie hob den Kopf. Ungläubiges Erstaunen spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Ich hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie nicht, stand aber langsam auf.
»Komm«, sagte ich und wahrte vorsichtig Abstand. »Mein Wagen steht vorm Haus.«
Merle nutzte die Wartezeit, indem sie die Anrufe erledigte, die auf ihrer Liste standen. Sie hatte es übernommen, das nächste Treffen der Tierschützer zu organisieren. Diese Treffen fanden an immer wechselnden Orten statt, um es der Polizei nicht zu leicht zu machen, ihnen auf die Schliche zu kommen.
Doch dann war auch das letzte Telefongespräch geführt und allmählich gab es nichts mehr zu tun. Brauchte Jette wirklich so lange, um die Katzen ins Haus zu locken, oder war ihr etwas passiert?
»Blödsinn«, sagte Merle laut zu sich selbst. »Was soll ihr denn passiert sein?« Aber sie wusste, dass sie sich nur zu beschwichtigen versuchte. Man war nicht sicher. Nie. Nirgends. Das hatten sie oft genug erfahren müssen.
Der Tisch war gedeckt. Ein Viertel der Trauben verspeist. Auch vom Baguette fehlten schon ein paar Scheiben. Merle hatte gerade beschlossen, eine SMS abzuschicken, da hörte sie Jettes Schlüssel im Schloss.
»Jette! Endlich! Musstest du einen Suchtrupp aufstellen, um die Katzen …«
Weiter kam sie nicht. Jette stand auf der Türschwelle, eine Hand erhoben, um Merle zum Schweigen zu bringen. Sie sprach leise auf ein Mädchen ein, das noch halb im Dämmerlicht des Treppenhauses verborgen war und den Anschein erweckte, als würde es beim geringsten Anlass die Flucht ergreifen.
»Das ist Merle. Du kannst ihr vertrauen.« Jette betrat den Flur und stellte ihre Tasche ab, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. »Merle«, sagte sie, »das ist Mina.«
»Hallo, Mina.« Merle bewegte sich nicht. Sie hatte schon viele Tiere gesehen, die sich wie dieses Mädchen verhalten hatten. Zu Tode geängstigte Wesen mit allen Anzeichen eines heftigen Schocks.
»Komm rein«, sagte Jette, »dann stell ich dir Donna und Julchen vor. Ich hab dir doch von ihnen erzählt. Es gibt auch was zu essen. Hast du Hunger?«
Merle ging auf Zehenspitzen in die Küche. Sie hob das schlaftrunkene Julchen vom Sofa auf und trug es in den Flur. Julchen erblickte das fremde Mädchen und fing an zu
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