Der Scherbensammler
jedes Pfund an dir«, sagte er, und das stimmte. Diese Frau hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Morgens beim Abschied freute er sich schon aufs Wiedersehen. Die meisten Abende und Nächte verbrachte er inzwischen bei ihr. Nur manchmal zog es ihn noch in seine Wohnung. Ab und zu brauchte er ein paar Stunden des Alleinseins, um sich daran zu erinnern, dass es auch abseits von Imke Thalheim noch ein Leben gab.
»Bist du fertig für heute?«, fragte sie.
»Ja. Mein letzter Termin ist geplatzt.« Er klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr und fing an, seine Tasche zu packen. »Ich mache mich gleich auf den Weg.«
»Ich freu mich auf dich«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Immer hatte sie das letzte Wort. Doch auch das liebte er an ihr. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Draußen verglühte der Sommer. Eine schwarze Katze räkelte sich auf den warmen Steinen am Brunnen. Das Wasser plätscherte. Plötzlich hatte Tilo große Lust, sich Imke zu schnappen und für ein paar Tage ans Meer zu fahren. Einfach so. Spontan, unvernünftig und abenteuerlich.
Aber da war der Terminkalender. Da waren seine Patienten. Und außerdem war Imke nicht die Frau, die sich schnappen und ans Meer entführen ließ. Seufzend machte er das Fenster zu und griff nach seiner Tasche. Er hatte jetzt zwei Jahre nonstop durchgearbeitet. Vielleicht sollte er das Abendessen nutzen, um Imke einen ersten gemeinsamen Urlaub schmackhaft zu machen. Der Gedanke beflügelte ihn. Pfeifend schloss er die Praxis ab und durchquerte beschwingt den langen, angenehm kühlen Flur.
Überall war Blut. Auf dem Boden. An der Wand. An ihren Schuhen. Ihren Kleidern. Entsetzt starrte sie ihre Hände an.
Rot. Klebrig.
Es ließ sich nicht abreiben. Trotzdem fuhr sie wieder und wieder über ihre Jeans. Bis ihr die Hände brannten.
Ein Fenster. Sie musste ein Fenster öffnen! Mühsam rappelte sie sich auf. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Tief atmen. Sauerstoff in die Lungen schaffen. Kraft sammeln.
Und Mut.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und warum sie in diesem Zimmer auf dem Boden gekauert hatte. Vor allem aber wusste sie nicht, woher das Blut kam. All das rote, glitschige Blut.
Ihr wurde schwindlig. Sie stützte sich an der Wand ab, bemerkte entsetzt, dass sie schwache rote Abdrücke auf der weißen Tapete hinterließ. Stöhnend setzte sie einen Fuß vor den andern und folgte dem Licht, das sie zu einem Fenster führen musste.
Vielleicht war das ein Traum. Und sie steckte darin fest. In einem seltsam eindrücklichen Traum, der ihr vorgaukelte, dies hier sei die Wirklichkeit. Sie konnte fühlen, hören, Farben sehen. Waren Träume farbig? Oder nur schwarz-weiß?
Hastig riss sie das Fenster auf. Nahm wahr, dass eine Pflanze zu Boden fiel und der Übertopf mit einem Knall in Scherben ging. Und dann lehnte sie sich hinaus und sog gierig die frische Luft ein.
Ich hatte das Geschirr in die Spülmaschine geräumt und mir einen Eimer Seifenwasser geholt, um die Tische abzuwischen. Alles, was mit Küche und Speisesaal zu tun hatte, roch für mich gleich und erinnerte mich an Krankenhaus.
Es war ein muffiger, abgestandener Geruch, der hartnäckig an jedem Gegenstand zu haften schien, erst recht an dem warmen, feuchten Putzlappen. Wenn ich mit dem Dienst fertig war, hatte sich dieser Geruch auch in meinen Kleidern verfangen und in meinem Haar. Er lag sogar auf meiner Haut. Ich konnte abends nicht schnell genug unter die Dusche kommen.
Die Tische waren immer völlig versaut. Die meisten alten Leute waren nicht mehr in der Lage, die Hände ruhig zu halten. Manche mussten gefüttert werden. Ab und zu verschluckten sie sich und spuckten beim Husten das Essen umher. Sie warfen ihr Glas oder ihre Tasse um. Zogen eine Kleckerspur, wenn sie sich Gemüse oder Kartoffeln nahmen.
Heute hatte es zum Abendessen Brot mit Aufschnitt und Käse gegeben. Dazu Tomatensalat. Und Tee in allen Variationen. Besonders beliebt waren Kamille, Fenchel und Pfefferminz. Und schwarzer Tee. Doch der war am Abend nicht mehr erlaubt.
Ich arbeitete gern hier. Schon vor dem Abi hatte ich mich um eine Stelle bemüht. Mir war immer klar gewesen, dass ich ein freiwilliges soziales Jahr machen wollte. Und ich hatte immer gewusst, dass ich mich am liebsten um alte Menschen kümmern würde.
Meine Großmutter behauptet, das sei mein Helfersyndrom. Sie ist ein großartiger Mensch, fit und vital und mit einer dermaßen spitzen Zunge ausgestattet, dass sie glatt ein zu Boden
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