Der Schutzengel
ist Arbeit liegengeblieben. Das hat mir keine Ruhe gelassen, deshalb habe ich beschlossen, herzukommen und sie zu erledigen.«
»Das ist der Weg zu einem frühen Grab, wetten?«
Während Stefan den Vorraum betrat und zusah, wie der Wachmann die Stahltür schloß, versuchte er sich an irgendeine Kleinigkeit aus Viktors Privatleben zu erinnern. »Wie Sie aussehen, Viktor, macht Ihre Frau noch immer die fabelhaften Nudelaufläufe, von denen Sie mir erzählt haben?«
Viktor wandte sich von der Tür ab, lachte leise und tätschelte seinen Schmerbauch. »Ich könnte schwören, daß der Teufel sich mit ihr verbündet hat, um mich zur Sünde der Völlerei zu verführen. Was haben Sie da für einen Koffer? Ziehen Sie bei uns ein?«
Stefan wischte sich mit der freien Hand über sein regennasses Gesicht. »Unterlagen«, antwortete er knapp. »Ich habe sie zu Hause durchgearbeitet.«
»Haben Sie denn gar kein Privatleben?«
»O ja. Jeden zweiten Dienstag zwanzig Minuten.«
Viktor schüttelte mißbilligend den Kopf. Er trat an den Schreibtisch, der ein Drittel des kleinen Vorraums einnahm, griff nach dem Telefonhörer und rief den zweiten Wachmann an, der seinen Posten am Haupteingang des Institutsgebäudes in einem ähnlichen Raum hatte. Würde jemand nach Dienst eingelassen, verständigte der jeweilige Wachmann seinen Kollegen am anderen Ende, damit kein falscher Alarm gegeben und nicht etwa ein harmloser Besucher versehentlich erschossen wurde.
Stefan, von dessen Trenchcoat Wasser auf den abgetretenen Teppich tropfte, trat an die innere Tür und holte seinen Schlüssel aus der Manteltasche. Auch diese Tür bestand aus Stahl und hatte verdeckte Angeln. Sie ließ sich jedoch nur öffnen, wenn zwei Schlüssel gleichzeitig gedreht wurden – der eines Institutsmitarbeiters und der des jeweiligen Wachmanns. Die Forschungsprojekte, an denen hier gearbeitet wurde, waren so geheim, daß selbst das Wachpersonal keinen Zugang zu den Labors und Archiven hatte.
Viktor legte den Hörer auf. »Wie lange bleiben Sie?«
»Ein paar Stunden. Arbeitet heute nacht sonst noch jemand?«
»Nein. Sie sind der einzige Märtyrer. Und Märtyrer mag keiner. Eines Tages arbeiten Sie sich zu Tode – und wofür? Das Vaterland wird’s Ihnen auch nicht danken.«
»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab, hat ein Dichter geschrieben.«
»Heilige und Märtyrer herrschen aus dem Grab? Klingt nicht nach einem Dichter. Eher nach staatsfeindlicher Parole.« Viktor lachte. Offenbar amüsierte ihn die Vorstellung, sein fleißiger Kollege könnte ein Verräter sein.
Sie sperrten gemeinsam die innere Tür auf.
Stefan wuchtete den Sprengstoffkoffer in den Erdgeschoßkorridor des Instituts und machte dort Licht.
»Wenn Sie sich die Nachtarbeit zur Gewohnheit machen wollen«, sagte Viktor, »bringe ich Ihnen das nächste Mal einen Kuchen meiner Frau mit, damit Sie bei Kräften bleiben.«
»Danke, Viktor, aber ich hoffe, daß es nicht zur Gewohnheit wird.«
Der Wachmann schloß die Stahltür, deren Riegel automatisch einschnappten.
Als Stefan im Korridor allein war, überlegte er nicht zum ersten Mal, daß er mit seinem Aussehen Glück hatte: blond, blauäugig, energische Gesichtszüge. Seine Erscheinung trug mit dazu bei, daß er ganz frech Sprengstoff ins Institut schaffen konnte, ohne mit einer Durchsuchung seines Gepäcks rechnen zu müssen. Es war nichts Finsteres, Verschlagenes oder Verdächtiges an ihm, er entsprach dem gängigen Ideal. Seine Loyalität stand für Männer wie Viktor außer Zweifel – Männer, deren blinde Staatstreue und bierseliger, sentimentaler Patriotismus sie daran hinderte, über alle möglichen Dinge nachzudenken. Und es gab genug Dinge, über die man hätte nachdenken können.
Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und ging sofort in sein Büro, wo er eine Messinglampe mit Scherengelenkarmanknipste. Nachdem er Trenchcoat und Überschuhe abgelegt hatte, holte er mehrere Schnellhefter aus dem Aktenschrank und legte sie aufgeschlagen auf seinen Schreibtisch, um die Illusion zu erzeugen, hier werde gearbeitet. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß einer seiner Kollegen mitten in der Nacht ins Institut kam, mußte alles getan werden, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.
Danach stieg Stefan mit seinem Koffer und einer mitgebrachten Taschenlampe in den dritten Stock und weiter zum Dachboden hinauf. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm mächtige Balken, aus denen da und dort schlecht eingeschlagene Nägel
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