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01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

Titel: 01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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1.
    Irgendwie erinnere ich mich nur an mich und Bunce. Wir sind ganz allein im Zugabteil. Ich, acht Jahre und einen Monat alt, und dieses unbeschreibliche Häufchen Elend, das sich mit einem Schwall heißen Atems als Samuelanthonyfarlowebunce vorstellt.
    Jetzt fällt mir wieder ein, warum wir allein waren. Meine Mutter hatte uns zeitig in Paddington Station abgesetzt. Mein zweites Semester. Im Zug nach Stroud war ein ganzer Waggon für uns reserviert. Gewöhnlich empfing meine Mutter, meinen Bruder und mich bei der Ankunft im Bahnhof eine große Schar wippender Kreissägen, die zum Abschied auf ein Meer unsäglicher Damenhüte herabnickten.
    Da wir diesmal mit zu den ersten gehörten, hatte mein Bruder ein Abteil gefunden, in dem ein älterer Junge bereits zwischen seinen ausgebreiteten Süßigkeiten saß und darauf brannte, seine neuen Federmäppchen und Conkers-Schläger vorzuführen, während ich die beiden respektvoll allein gelassen hatte. Schließlich hatte ich gerade erst ein Semester hinter mir. Außerdem war ich mir nicht ganz sicher, wozu so ein Conkers-Schläger überhaupt gut war.
    Im nächsten Abteil war ich dann auf diese winzige, zitternde Kreatur gestoßen, die offenbar vom Lande stammte.
    Mein Bruder und ich hatten uns aus den benachbarten Fenstern gelehnt, um unsere Mutter unbesorgt nach Hause zu schicken. Wir waren in solchen Augenblicken auf grausame Weise zuvorkommend, indem wir den Abschied so gelassen wie möglich nahmen und ihr mit allen Mitteln zu signalisieren versuchten, wie wenig es uns ausmachte, für solange Zeit von zu Hause fort zu sein. Insgeheim wußten wir, daß es ihr weitaus schwerer fiel als uns. Daheim erwarteten sie ein Säugling und ein Ehemann, der so sehr in seiner Arbeit aufging, daß sie ihn kaum zu Gesicht bekam, sowie die beständigen Alpträume von Ungewißheit, Zweifel und Schuld, die eine Mutter plagen, während wir auf uns selbst gestellt waren. Ich glaube, unser frühzeitiges Eintreffen beruhte auf der stillschweigenden Übereinkunft, die Sache hinter uns zu bringen, bevor all die anderen anrückten. Das laute Brimborium und der Kopfputz der anderen Mütter waren den besonderen Liebesbezeigungen im Hause Fry wenig förderlich: ein flüchtiger Händedruck und leises Kopfnicken, die für Zuneigung und ein tiefes, unausgesprochenes Verständnis standen. Abgesehen von einem leicht gequälten Lächeln und dem Biß auf die Unterlippe verließ Mummy den Bahnsteig immer äußerlich gefaßt, was die Hauptsache war.
    Nachdem das also erledigt war, ließ ich mich in meinen Sitz fallen und widmete mich dem verheulten, bibbernden kleinen Wicht gegenüber. Er hatte sich einen Fensterplatz mit dem Rücken in Fahrtrichtung ausgesucht, als wolle er den Blick lieber nach Hause richten als dem grausig unbekannten Ziel entgegen.
    »Du bist neu an der Schule, nicht?« sagte ich.
    Ein tapferes Nicken und zwei scharlachrot anlaufende flauschige Hamsterbäckchen.
    »Ich heiße Fry«, fügte ich hinzu. »Nebenan sitzt mein Bro.«
    In die braunen Augen des kleinen Kerls trat eine plötzliche Panik, als befürchtete er, ich würde meinen Bro herüberholen. Vermutlich hatte er keinen Schimmer, was Bro bedeutete.
    Ein Semester zuvor war es mir genauso ergangen.
    Laut »Roger! Roger!« rufend war ich in der Pause zu meinem Bruder gerannt. »Hast du einen Brief von ...«
    »Du sagst hier Bro zu mir, kapiert?«
    Ich erklärte dem verstörten Winzling mir gegenüber den Sachverhalt. »Bro heißt einfach nur Bruder. Er ist Fry, R. M. Und ich bin Fry, S. J. Alles klar?«
    Das flaumige Hamster-Küken-Eichhörnchen-Landei-Kerlchen nickte bestätigend. Es schluckte ein paarmal, als wolle es genügend Luft holen, um ohne Schluchzen zu sprechen.
    »Ich hab im letzten Semester angefangen«, sagte ich, wobei eine riesige und gänzlich unerklärliche Woge der Selbstzufriedenheit mich von meinen Wollsocken mit Sockenhaltern bis zur blaubebänderten Kreissäge durchflutete. »Ist alles halb so schlimm, wirst schon sehen. Natürlich wirst du am Anfang noch etwas eingeschüchtert sein und Heimweh haben.«
    Es wagte nicht, mich anzusehen, sondern nickte erneut und starrte geknickt auf seine schwarzglänzenden Cambridgeschuhe, die mir so zierlich vorkamen wie Babyschühchen.
    »Alle weinen. Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen.«
    Genau in dem Moment platzte es aus ihm heraus, sein Name sei Samuelanthonyfarlowebunce, für seine Freunde Sam, aber niemals Sammy.
    »Also werde ich Bunce zu dir sagen«,

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