Der Schwarm
zeigte, reichte, ihm Schauer über den Rücken zu jagen. Noch waren sie im kritischen Bereich. Wenige Kilometer schelfeinwärts, und sie würden kentern. Weiter draußen stand zu erwarten, dass sie mit einem blauen Auge davonkamen. Sie würden sich dem Wüten des Sturms aussetzen müssen, aber damit ließ sich zurechtkommen.
Alban rief sich die Morphologie des Hangs in Erinnerung. Zum Nordwesten hin fiel der Meeresboden in mehreren großen Terrassen ab. Wenn sie Glück hatten, kam die Lawine im oberen Bereich zum Stillstand. Aber bei einem Storegga-Effekt gab es kein Halten mehr. Der komplette Hang würde in die Tiefsee rutschen, Hunderte von Kilometer weit und bis in dreieinhalbtausend Meter Tiefe. Bis in die Abyssale östlich von Island würden die Massen dringen und dabei die Nordsee und die norwegische See erschüttern wie ein Jahrtausendbeben.
Wohin sollten sie fahren?
Alban wandte den Blick von den Instrumenten.
»Kurs Island«, sagte er.
Millionen Tonnen Schlamm und Schutt rasten nach unten.
Als die ersten Ausläufer der Lawine in den Färöer-Shetland-Kanal stürzten, gab es zwischen Schottland und der Norwegischen Rinneschon keine Hangterrassen mehr, nur noch eine aufgelöste Masse, die mit Wucht tiefer und tiefer krachte und alles mit sich riss, was bis dahin Struktur und Form besessen hatte. Ein Teil der Rutschung verteilte sich westlich der Färöer-Inseln und wurde schließlich an den unterseeischen Bänken gestoppt, die das Isländische Becken umgaben. Ein anderer Teil der Lawine verteilte sich entlang des Höhenzugs zwischen Island und den Färöern.
Das meiste jedoch donnerte den Färöer-Shetland-Kanal hinab wie auf einer gigantischen Rutsche. Nichts stoppte den Niedergang. Dasselbe Tiefseebecken, das Tausende von Jahren zuvor die Storegga-Rutschung in sich aufgenommen hatte, füllte sich jetzt mit einer noch größeren Lawine, die unaufhaltsam vordrang und dabei einen gewaltigen Sog erzeugte.
Dann brach die Schelf kante ab.
Sie riss auf einer Breite von fünfzig Kilometern einfach weg. Und das war nur der Beginn von allem.
Sveggesundet, Norwegen
Direkt nach Johansons Abflug hatte Tina Lund ihr Gepäck in Johansons Jeep verladen und war losgefahren.
Sie fuhr schnell. Beginnender Regen verschmierte die Straße. Johanson hätte wahrscheinlich protestiert, aber Lund war der Meinung, was der Wagen hergab, sollte man ihm auch abverlangen. In dem trüben Wetter gab es ohnehin nicht viel zu sehen.
Mit jedem Kilometer, den sie sich Sveggesundet näherte, fühlte sie sich leichter werden.
Der Knoten war geplatzt. Nachdem die Sache mit Stone geklärt war, hatte sie unverzüglich Kare Sverdrup angerufen und ihm vorgeschlagen, ein paar Tage zusammen am Meer zu verbringen. Sverdrup war erfreut gewesen und auch einigermaßen verblüfft, wie ihr schien. Etwas an seiner Reaktion ließ sie ahnen, dass Johanson Recht behalten hatte. Dass sie den Zickzackkurs der vergangenen Wochen in letzter Sekunde begradigt hatte, weil Kare Sverdrup sonst weg gewesen wäre. Einen Moment lang hatte sie die Angst gepackt, es verpatzt zu haben, und sie hatte sich Worte sagen hören, die für ihre Verhältnisse geradezu beunruhigend verbindlich klangen.
Johanson hatte ein Haus niedergerissen. Nun gut. Man könnte ja mal versuchen, eines zu bauen.
Als der Jeep nach rascher Fahrt die uferwärts führende Hauptstraße von Sveggesundet entlangrollte, fühlte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie parkte den Wagen auf einem öffentlichen Platz oberhalb des Fiskehuset. Von dort führten eine Zufahrt und ein Fußweg zum Strand. Ein richtiger Sandstrand war es nicht. Moose und Farne überwucherten Geröll und flaches Gestein. Die Landschaft um Sveggesundet war zwar flach, aber romantisch wild, und das Fiskehuset mit seiner Terrasse, direkt am Meer gelegen, bot einen besonders schönen Ausblick, selbst heute im Regen und bei schlechter Sicht.
Lund schlenderte die paar Schritte bis zum Restaurant und trat ein. Sverdrup war nicht dort, und geöffnet war auch noch nicht. Eine Küchenhilfe trug Kisten mit Gemüse hinein und ließ sie wissen, Sverdrup habe im Ort zu tun. Vielleicht sei er auf der Bank oder beim Friseur oder sonst wo, jedenfalls habe er keine Aussage darüber getroffen, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen sei.
Selber schuld, dachte Lund.
Sie hatten sich hier verabredet. Vielleicht lag es an der Raserei in Johansons Jeep, aber sie war eine Stunde zu früh dran. Wie hatte sie sich so verschätzen können?
Weitere Kostenlose Bücher