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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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kam sie weniger schnell voran. Aber es war der einzige Weg, der ihr noch blieb. Ihre letzte Chance war der Jeep. Nach wenigen Metern gelangte sie an eine Absperrung, ein zwei Meter hohes Drahtgitter. Sie griff in die Maschen, zog sich hoch. Mit einem Satz war sie auf der anderen Seite. Wieder hatte sie wertvolle Sekunden verloren, während derer die Welle näher kam. Aber dafür sah sie plötzlich die schwarze Silhouette des Jeeps hinter Vorhängen aus Regen, und er war näher, als sie gedacht hatte, zum Greifen nahe.
    Sie lief noch schneller. Die Felsen endeten, gingen in Wiese über. Da war der Beton des Parkplatzes unter ihren Füßen. Gut so! Und dort der Wagen. Vielleicht hundert Meter noch. Weniger. Vielleicht fünfzig.
    Vierzig.
    Lauf, Tina. Lauf!
    Der Beton erbebte. In Lunds Ohren dröhnte und hämmert das Blut.
    Lauf!
    Ihre Hand glitt in die Jackentasche, umfasste den Autoschlüssel. Ihre Stiefelsohlen hämmerten einen gleichmäßigen Takt. Auf den letzten Metern rutschte sie aus, aber egal, sie war da, ihr Körper schlug gegen den Wagen, aufschließen, schnell!
    Sie spürte, wie ihr der Schlüssel entglitt.
    Nein, dachte sie, bitte nicht. Nicht das.
    Panisch fingerte sie danach, wirbelte herum. Oh Gott, wo war der verdammte Schlüssel, er musste hier liegen, irgendwo, bitte!
    Dunkelheit senkte sich herab.
    Langsam hob sie den Kopf und sah die Welle.
    Plötzlich hatte sie keine Eile mehr. Sie wusste, dass es zu spät war. Sie hatte schnell gelebt, sie würde schnell sterben. Sie hoffte wenigstens, dass es schnell ging. Manchmal hatte sie sich gefragt, wie es wäre zu sterben, was einem im Kopf herumgehen mochte, wenn man definitiv erkannte, dass es so weit war und kein Weg daran vorbeiführte. Der Tod würde sagen, ich bin da. Du hast fünf Sekunden, mach dir ein paar Gedanken, was immer du willst, wir sind heute großzügig, und wenn du möchtest, kannst du dein ganzes Leben nochmal Revue passieren lassen, die Zeit bekommst du. War es nicht so? Hieß es nicht, dass man erstaunlicherweise – in einem sich überschlagenden Auto etwa, im Angesicht eines abgefeuerten Projektils, im Verlauf eines tödlichen Sturzes – sein komplettes Leben an sich vorüberziehen sah, Bilder aus derKindheit, die erste Liebe, eine Art Best of ? Jeder sagte, dass es so war, also musste es stimmen.
    Aber das Einzige, was Lund empfand, war Angst, der Tod könne ihr wehtun und sie würde Schmerzen leiden müssen. Und dann fühlte sie eine gewisse Scham, dass sie so erbärmlich enden musste. Dass sie es verpatzt hatte. Das war alles. Kein inneres Hollywood. Keine großen Gedanken. Kein würdiger Abschluss.
    Vor ihren Augen krachte der Tsunami in Kares Sverdrups Restaurant, schlug es in Trümmer und fegte darüber hinweg.
    Die Wasserwand erreichte den Parkplatz.
    Sekunden später schoss sie die Anhöhe hinauf.
     
     

     
     
    Der Schelf
    Als die Welle im Verlauf ihrer Ausbreitung das umliegende Festland erreichte, hatte sie auf dem Schelf bereits unvorstellbare Zerstörungen hinterlassen.
    Ein Teil der Bohrplattformen und Pumpstationen, die man direkt an den Kontinentalrand gebaut hatte, war mit dem abrutschenden Hang in der Tiefe verschwunden. Das allein kostete innerhalb weniger Minuten Tausende von Menschen ihr Leben, aber es war nur ein Vorgeschmack dessen, was der Tsunami auf dem Schelf anrichtete. Wie bei einem Auffahrunfall türmten sich die nachdrängenden Wassermassen zu einer senkrechten Front übereinander, die umso höher wuchs, je flacher es wurde. Unter ihrem Aufprall knickten die Gestänge der Bohrplattformen, die nach Gerüstbauweise konstruiert waren, wie Streichhölzer ein. Im Verlauf von nicht einmal fünfzehn Minuten kenterten über achtzig Plattformen, weil sie der Belastung nicht standhielten. Dabei wurde ihnen weniger die Höhe der Wasserwand zum Verhängnis – Nordseebohrinseln waren darauf ausgerichtet, von einer knapp vierzig Meter hohen Welle unterlaufen zu werden, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen, was statistisch einmal in hundert Jahren erwartet wurde –, sondern das Zusammentreffen etlicher Faktoren.
    In gewöhnlichen Brechern waren schon zwölf Tonnen Druck pro Quadratmeter gemessen worden. Das reichte aus, um Hafendämme loszureißen und im Stadtzentrum wieder abzusetzen, kleinere Schiffe durch die Luft zu wirbeln und große Frachter und Tanker in zwei Teile zu zerschlagen. Es waren winderzeugte Wellen, die das zustande brachten. Ihre Aufprallenergie berechnete sich anders als die

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