Der Schwarm
Faust auf das Maul, das sie umklammert hielt, einzuschlagen.
»Hau ab«, schrie sie. »Weg. Du Mistvieh!«
Anawak krallte die Hände in ihre Jacke. Stringer sah zu ihm hoch. Ihr Blick spiegelte Todesangst.
»Susan! Gib mir die andere Hand.«
Er hielt sie fest, entschlossen, nicht nachzugeben. Der Orca hatte Stringer um die Mitte gepackt. Er zerrte mit unglaublicher Kraft an ihr. Ein Heulen kam aus Stringers Kehle, erst dumpf und schmerzvoll, dann überschlagend, schrill. Sie hörte auf, das Maul des Orcas mit Schlägen zu bearbeiten, und schrie nur noch. Dann wurde sie Anawak mit einem fürchterlichen Ruck entrissen. Er sah ihren Kopf unter Wasser verschwinden, ihre Arme, die zuckenden Finger. Der Orca zog sie unerbittlich hinab. Eine Sekunde lang leuchtete noch ihr Overall auf, ein versprengtes Kaleidoskop aus Farbe, das verblasste, sich auflöste, verschwand.
Anawak starrte fassungslos ins Wasser. Aus der Tiefe stieg etwas Glitzerndes nach oben. Ein Schwall Luftblasen. Sie zerplatzten schäumend an der Wasseroberfläche.
Drum herum färbte sich das Wasser rot.
»Nein«, flüsterte er.
Greywolf packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück.
»Es ist niemand mehr da«, sagte er. »Wir hauen ab.«
Anawak war wie betäubt. Das Sportboot nahm röhrend Fahrt auf. Er taumelte und fing sich. Die Frau, die Stringer gerettet hatte, lag auf einer der seitlichen Sitzbänke und wimmerte. Delaware redete mit zitternder Stimme auf sie ein. Der Mann, den sie aus dem Wasser gezogen hatte, stierte vor sich hin. In einiger Entfernung hörte er tumultartigen Lärm, wandte den Kopf und sah das weiße Schiff umkreist von Schwertern und Buckeln. Wie es aussah, machte die Lady Wexham kaum noch Fahrt, während sie immer dramatischer in Schieflage geriet.
»Wir müssen zurück«, rief er. »Sie schaffen es nicht.«
Greywolf jagte das Boot mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. Ohne sich umzudrehen, sagte er:
»Vergiss es.«
Anawak trat neben ihn, riss das Walkie-Talkie aus der Halterung und rief die Lady Wexham. Es rauschte und knisterte. Der Skipper der Lady meldete sich nicht.
»Wir müssen denen helfen. Jack! Verdammt, dreh um ...«
»Ich sagte, vergiss es! Mit meinem Boot haben wir nicht die geringste Chance. Wir können von Glück sagen, wenn wir das hier überleben.«
Das Schreckliche war, dass er Recht hatte.
»Victoria?«, schrie Shoemaker ins Telefon. »Was zum Teufel tun die alle in Victoria? – Wieso angefordert? – Die haben ihre eigene Küstenwache in Victoria. Im Clayoquot Sound treiben Passagiere, da sinkt vielleicht gerade ein Schiff, eine Skipperin ist tot, und wir sollen uns gedulden?«
Er hörte zu, während er mit langen Schritten den Verkaufsraum durchmaß. Abrupt blieb er stehen.
»Was heißt das, sobald sie können? – Das ist mir scheißegal! Dann sollen sie jemand anderen schicken. – Was? – Hören Sie mal, Sie ...«
Die Stimme im Hörer schrie so laut zurück, dass es bis zu Anawak drang, obwohl Shoemaker in einigen Metern Entfernung stand. In der Station herrschte Aufruhr. Davie war persönlich anwesend. Er und Shoemaker sprachen pausenlos in irgendwelche Hörer und Geräte, gaben Instruktionen durch oder hörten fassungslos zu. Bei Shoemaker gewann die Fassungslosigkeit gerade Überhand. Er ließ den Hörer sinken und schüttelte den Kopf.
»Was ist los?«, wollte Anawak wissen. Er machte Shoemaker das Zeichen, leiser zur reden, und ging zu ihm hinüber. Während der letzten Viertelstunde, seit Greywolf sein altersschwaches Boot zurück nach Tofino geprügelt hatte, füllte sich der Verkaufsraum stetig mit Menschen. Die Nachricht von den Angriffen war wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort gegangen. Auch die anderen Skipper, die für Davies arbeiteten, trafen der Reihe nach ein. Mittlerweile waren die Frequenzen hoffnungslos überlastet. Die Prahlereien von Sportfischern, die in der Nähe waren und Kurs auf die Unglücksstelle nahmen – »Ha, junge Leute, zu blöde, einem Wal auszuweichen!« –, verstummten allmählich. Wer helfen wollte, wurde augenblicklich selber Zielscheibe von Attacken. Die Welle der Angriffe schien sich entlang der kompletten Küstenlinie fortzusetzen. Überall war die Hölle losgebrochen, ohne dass jemand wirklich zu sagen vermochte, was überhaupt geschah.
»Die Küstenwache hat niemanden, den sie uns schicken kann«, zischte Shoemaker. »Sie sind alle vor Victoria und Ucluelet unterwegs. Sie sagen, es seien mehrere Boote in Seenot
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