Der Schwarm
brauste, kreisten Anawaks Gedanken um die Frage nach dem Warum. Er hatte immer geglaubt, viel über die Tiere zu wissen. Nun war er völlig ratlos und außerstande, eine halbwegs vernünftige Erklärung zu finden. Einzig die Parallele zu den Vorgängen um die Barrier Queen war nicht zu übersehen. Auch dort hatten Wale offenbar gezielt versucht, Schiffe zum Kentern zu bringen. Sie müssen mit etwas infiziert sein, dachte er. Eine Art Tollwut. Es kann nur so sein, dass etwas sie krank macht.
Aber gleich eine artenübergreifende Tollwut? Buckelwale und Orcas – auch Grauwale hatten sich an den Rammstößen beteiligt, wie er sich zu erinnern glaubte. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass kein Buckelwal sein Zodiac umgeworfen hatte, sondern ein Grauwal.
Waren die Tiere vor lauter Chemie verrückt geworden? Hatten die hohen PCB-Konzentrationen im Meerwasser und die vergiftete Nahrung ihre Instinkte durcheinander gebracht? Aber die Orcas vergifteten sich an verseuchten Lachsen und anderen Lebewesen, die Toxide in sich trugen. Grau- und Buckelwale hingegen waren Planktonfresser. Ihr Metabolismus funktionierte anders als der von Fleischfressern.
Tollwut war keine Erklärung.
Er betrachtete die glitzernde Wasseroberfläche. Wie oft war er hier entlanggefahren in Vorfreude auf die Begegnung mit den riesigen Meeressäugern. Zu jeder Zeit war er sich der potenziellen Gefahren bewusst gewesen, ohne jemals Angst verspürt zu haben. Draußen auf See konnte unvermittelt Nebel aufziehen. Der Wind konnte sich drehen und tückische Wellen heranjagen, die einen gegen die Klippen warfen – 1998 waren im Clayoquot Sound auf diese Weise ein Skipper und ein Tourist ums Leben gekommen. Und natürlich blieben die Wale bei all ihrer Freundlichkeit unberechenbare Wesen von gewaltiger Kraft und Größe. Jeder erfahrene Whale Watcher wusste, aufwelche Urgewalt er sich einließ.
Aber es war unsinnig, sich vor der Natur zu ängstigen.
Ein Mensch musste befürchten, in seinem Haus von anderen Menschen überfallen oder auf der Straße von einem Auto überfahren zu werden, und es gab so gut wie keine Chance, dem zu entgehen. Einem aggressiven Wal konnte man hingegen sehr wohl entgehen, indem maneinfach nicht in seinen Lebensraum eindrang. Tat man es trotzdem, akzeptierte man Gefahr als etwas zutiefst Natürliches und Authentisches. Stürme, haushohe Wellen und wilde Tiere verloren ihren Schrecken, sobald man freiwillig ihr Umfeld suchte. Die Angst wich dem Respekt, und Anawak hatte zu allen Zeiten größtmöglichen Respekt gehabt.
Jetzt erstmals packte ihn Angst hinauszufahren.
Wasserflugzeuge zogen über die dahinrasende Devilfish hinweg. Anawak stand mit Shoemaker im Steuerhaus. Der Geschäftsführer hatte es sich nicht nehmen lassen, das Boot selber zu steuern, trotz Greywolfs wiederholter Beteuerungen, er könne das besser. Jetzt hockte Greywolf im Bug und spähte übers Wasser nach verdächtigen Zeichen. Zu ihrer Linken schoben sich die bewaldeten Ausläufer kleinerer Inseln heran. Einige Seelöwen lagen träge auf den Steinen, als könne nichts ihren Seelenfrieden erschüttern. Das Zodiac dröhnte mit unverminderter Geschwindigkeit an ihnen vorbei, Felsen und Bäume blieben zurück, dann lag wieder offene See vor ihnen. Endlos, eintönig, vertraut und fremd zugleich.
Jenseits der geschützten Lagune schlugen die Wellen höher. Das Zodiac setzte knallend auf. Während der letzten halben Stunde war die See rauer geworden. Am Horizont ballten sich Wolken zusammen. Es sah nicht eben nach Sturm aus, aber das Wetter verschlechterte sich rapide, wie es für diese Gegend typisch war. Wahrscheinlich zog eine Regenfront heran. Anawaks Blick suchte die Lady Wexham. Im ersten Augenblick fürchtete er, sie sei gesunken. Dafür sah er in einiger Entfernung eines der Kreuzfahrtschiffe liegen, die zu dieser Zeit hinauf nach Alaska fuhren und dabei den kanadischen Westen passierten.
»Was machen die denn hier?«, rief Shoemaker.
»Wahrscheinlich haben sie die Hilferufe gehört.« Anawak legte den Feldstecher an die Augen. »MS Arktik. Aus Seattle. Kenne ich. Sie sind in den letzten Jahren mehrfach hier durchgekommen.«
»Leon. Da!«
Klein und schief, kaum auszumachen hinter den auf- und abschwellenden Wellenkämmen, ragten plötzlich die Aufbauten der Lady Wexham empor. Der größte Teil des Schiffs lag unter Wasser. Vorn auf der Brücke und der Aussichtsplattform im Heck drängten sich die Menschen. Aufsprühende Gischt
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