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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Schüssel von sich gestreckt, als erwarte sie, dass jemand sie ihr aus den Händen nahm, Matteos Miene versteinerte, Giovanna, Matteos schöne Frau mit dem kleinen Luigi auf dem Arm, zog sorgenvoll die Stirn in Falten.
    »Unsinn«, gab Tommaso zurück.
    Aurelio ließ sich nicht beirren. »Aber die Leiter steht da nicht.«
    »Das sehe ich auch«, erwiderte sein Vater.
    »Nein, das tust du nicht.«
    Von da an verschlechterte sich Tommasos Zustand von Tag zu Tag. Er klagte nicht über Schmerzen, auch behauptete er, sich nicht krank zu fühlen. Und dennoch: Nach der Ernte hatte er noch wie jedes Jahr mit eiserner Hand den Acker gepflügt und mit sicherem Tritt den Ochsen über das Feld getrieben, bis dieser vor Erschöpfung stehengeblieben war. Jetzt schwanden seine Kräfte wie an einem Spätsommertag, wenn die Sonne eben noch heiß und senkrecht vom Himmel herunterbrannte und im nächsten Moment bereits die Dämmerung hereinbrach. Bis der Winter den Herbst ablöste, konnte er sich nicht mehr von seinem Lager erheben.
    Am Abend, als er starb, wachte Aurelio an seinem Bett. Tommasos Augen waren zur Decke gerichtet. Im Gegenlicht betrachtete Aurelio die verschleierten Pupillen. Es war, als hätten sich die Augäpfel mit einer grauen Flüssigkeit gefüllt. Die Finger seines Vaters tasteten suchend auf dem Lager umher. Es dauerte eine Weile, ehe Aurelio begriff, dass sie auf der Suche nach seiner, Aurelios, Hand waren. Tommaso wollte die Hand seines Sohnes halten. Oder von ihr gehalten werden. Vorsichtig ergriff er die Hand seines Vaters, die Finger dünn wie Krähenfüße.
    Tommaso schloss die Augen. »Du warst mir immer das Liebste auf dieser Welt, das weißt du.«
    Ja, das wusste Aurelio, wenngleich es ihm unangenehm war. Er wollte nicht mehr oder anders gemocht werden als sein Bruder.
    »Das weißt du«, wiederholte Tommaso.
    »Ja, Vater.«
    »Ich glaube, es ist, weil du so anders bist als ich, während mir Matteo so ähnlich ist. Deine Talente sind mir fremd. Und diese Schönheit … Keiner, der sich nicht nach dir umdrehte, wenn wir in die Stadt fahren.«
    Aurelio betrachtete die Stelle am Hals seines Vaters – wo sich das Blut seinen Weg durch die Adern bahnte.
    »Matteo ist ein guter Bauer«, fuhr Tommaso fort, »und Giovanna ist alles, was man sich von einer Frau wünschen kann. Ihr solltet euch nicht im Weg stehen.«
    Aurelio erschrak. Forderte sein Vater ihn etwa auf, den Hof zu verlassen?
    »Da war immer dieser Blick in die Ferne«, fuhr Tommaso fort, »immer die Sehnsucht nach dem, was auf der anderen Seite der Berge auf dich wartet.«
    »Aber hier ist mein Zuhause!«, protestierte Aurelio.
    »Unterbrich mich nicht. Meine Atemzüge sind gezählt.« Tommaso schluckte schwer. »Weißt du bereits, wohin es gehen soll?«
    »Rom«, antwortete Aurelio und biss sich gleich darauf auf die Lippen.
    Tommaso stöhnte auf. »Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt. Rom. Der größte Sündenpfuhl der Welt. Was zieht dich ausgerechnet dorthin?«
    Aurelio zögerte, aber dann sagte er es doch: »Ich möchte in die Dienste von Michelangelo Buonarroti treten.«
    Tommaso überlegte. »Ist das nicht dieser Bildhauer?«
    »Er ist der Bildhauer, Vater. In Florenz hat er eine Statue geschaffen, die nirgends in der Welt ihresgleichen hat. Sie ist neun Ellen hoch, aus einem einzigen Stein gehauen, und jeder, der an ihr vorbeigeht, verneigt sich vor ihr.«
    »Der David, ich weiß. Hab davon gehört. Neun Ellen … Wenn das wahr wäre, würde sie unser Haus überragen. Die Leute auf dem Markt in Forlì reden viel, Aurelio, und sie übertreiben gerne.«
    »Es ist wahr, Vater! Die Florentiner nennen ihn ›Il Gigante‹. Und jetzt hat Papst Julius ihn nach Rom kommen lassen, weil er für ihn ein Grabmal mit vierzig Statuen bauen soll.«
    »Und du willst ihm dabei helfen, dem Herrn Buonarroti?«, folgerte Tommaso.
    Die Vermessenheit seines Wunsches ließ das Blut in Aurelios Kopf pulsieren. »Wenn ich kann«, flüsterte er.
    »Wie auch immer …« Tommaso versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, doch der Faden entglitt ihm. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte er schließlich, »für beide von uns.«
    Aus seinen Fingern wich die Anspannung. Ein letzter Hauch strich über die Stelle an seinem Hals. In den Adern stockte das Blut. Kurz darauf benetzten Aurelios warme Tränen den Handrücken seines Vaters.
    * * *
    Diesmal hörte er ihren Wagen bereits aus der Ferne. Er erkannte ihn am Klang der frisch beschlagenen Räder, deren noch

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